Schamanenfeuer: Das Geheimnis von Tunguska
Kantinenbaracke zu. Er würde Kissanka oder eines der Mädchen bitten, seiner Frau und dem Kind etwas zu essen und zu trinken zu geben.
Die Mittagszeit war längst vorüber, und doch herrschte noch Betrieb in der Küche. Kissanka und die Mädchen spülten rund einhundert Blechnäpfe und Tassen. Ihr Blick war nicht zu deuten, als Leonard ihr seine Familie vorstellte. Er hätte gern etwas mehr dazu gesagt, als einfach nur ihre Namen zu erwähnen, doch ihm fehlten die Worte.
Viktoria trank auf Bitten ihrer Mutter vorsichtig von der heißen Milch. Kissanka hatte ihr ein Scheibe Brot mit Butter bestrichen, die das Kind gierig aß. »Es kommt auf seinen Vater, was?« Sie lächelte anzüglich und fing Katjas irritierten Blick auf.
Leonard verwünschte Kissanka für einen Augenblick. Sie würde es |334| ihm und seiner kleinen Familie nicht leichtmachen, soviel stand fest. Immerhin war sie so freundlich, nicht nur dem Kind, sondern auch Leonard und Katja einen Teller Eintopf zu geben, der vom Mittagessen übrig geblieben war. Leonard beobachtete, wie Mutter und Tochter ihre Suppen löffelten. Er konnte sich an Katja und seiner Tochter gar nicht sattsehen. Immer wieder verglich er ihre beiden puppenhaften Gesichter und suchte nach Ähnlichkeiten.
Nach dem Essen erhielt er den Schlüssel fürs Kontor. Ein weiterer Vertrauensbeweis des Kommandanten. Im Schuppen neben dem leer stehenden Zimmer des Verwalters stapelten sich alle Dinge des täglichen Bedarfs, die man im Lager benötigte. Katja begann sofort damit, den Ofen einzuheizen und die Stube zu fegen. Ein einfaches Bett und ein Sofa standen in dem Zimmer. Dazu ein Tisch und ein zweitüriger Kleiderschrank. Waschschüssel und Nachttopf befanden sich auf einer einfachen Kommode. Leonard dachte daran, dass er saubere Bettwäsche organisieren musste, um die schmutzige Matratze und die Kissen und Decken zu beziehen, und dass sie Handtücher brauchten und einen gusseisernen Topf, um Tee zu kochen, und dass er von nun an nicht mehr mit Weinberg und seinen Kameraden leben würde, sondern die Verantwortung für das Wohl einer Familie trug. Es überraschte ihn, wie schwer diese Erkenntnis trotz aller Freude auf ihm lastete. Er hatte immer Angst um Katja und ihr Kind gehabt. Doch jetzt war diese Angst noch viel größer, weil er die beiden täglich bei sich haben würde.
Als er bei Einbruch der Dunkelheit zu seinen Kameraden zurückkehrte, um sich mit dem Nötigsten wie Brot, Tee und Zucker einzudecken, fand er erfreute Gesichter vor. Aslan hielt einen Brief mit einem Foto seiner Familie in Händen. Man hatte sie aus der Haft entlassen. Sie standen zwar noch unter Hausarrest, durften sich aber in ihren eigenen vier Wänden aufhalten. Pjotrs Mutter hatte man einen größeren Geldbetrag zur Verfügung gestellt, damit sie ihre Schulden bezahlen und das Haus in Sankt Petersburg erhalten konnte.
Weinberg schwieg, und Leonard konnte sich des Triumphes nicht erwehren, dass der Jude Unrecht gehabt hatte. Katja war keine Spionin der Ochrana. Welche Frau nahm ein solches Schicksal auf sich, nur um dem Zaren zu dienen? Dabei fiel ihm auf, dass Weinberg nie darüber gesprochen hatte, unter welchen Umständen man ihn hierher gebracht hatte.
|335| Schweigend packte Leonard ein paar Sachen in eine leere Munitionskiste, darunter all seine Pläne, die er nachts in einsamen Stunden gezeichnet hatte. Ob er jetzt noch dazu kommen würde, außerhalb der Konstruktionshalle etwas zu zeichnen, erschien ihm fraglich. Trotz aller Vorbehalte gegen Katja zeigte sich Weinberg großzügig und wies ihm einen größeren Anteil an den Lebensmittelvorräten zu, als ihm eigentlich zustand.
»Ich werde dein Schnarchen vermissen, Nemez.« Aslan grinste breit. Ihm war die Erleichterung über die verbesserten Lebensbedingungen seiner Familie anzusehen.
»Warum tun die das?«, fragte Pjotr argwöhnisch.
»Warum tun die was?« Der Turkmene sah ihn verständnislos an.
»Warum sind sie so gut zu uns? Ich meine, sie müssten doch nicht so gut zu uns sein. Arbeiten müssen wir auch ohne all die Gefälligkeiten.«
»Gefälligkeiten nennst du das?« Aslan lachte bitter. »Das, was
wir
tun, sind Gefälligkeiten, und damit diese Gefälligkeiten nicht nachlassen, serviert man uns scheibchenweise längst fällige Selbstverständlichkeiten. Kapiert? Der Teufel schenkt uns einen Ausblick aufs Paradies, wenn wir ihm dafür unsere Seele verkaufen.«
»Frag nicht lange, Pjotr«, erklärte Leonard. Er nahm seine Kiste und wandte
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