Schamanenfeuer: Das Geheimnis von Tunguska
sondern eine verwaschene Armeehose und ein abgetragenes, hüftlanges Lederhemd, an dem ein paar perlenverzierte Schnüre baumelten.
In seinen Mundwinkeln zeigte sich ein angedeutetes Lächeln, das den zunächst strengen Eindruck seines markanten Gesichtes milderte. Auffordernd streckte er Viktoria seine große Hand entgegen und zog sie mit einem Ruck auf die Füße, der sie beinahe schon wieder hätte das Gleichgewicht verlieren lassen. Für einen Moment hielt er sie am Ellbogen gefasst, damit sie zu einem festen Stand finden konnte, und dabei war es ihm offenbar gleichgültig, dass er sich an ihrer durchnässten Kleidung die Finger schmutzig machte.
|44| »Danke«, murmelte Viktoria. Reichlich verdattert konnte sie sehen, wie sein interessierter Blick auf ihrem Gesicht ruhte.
»Ich glaube, Sie werden ein Bad nehmen müssen«, bemerkte er tonlos.
Tastend fuhr sie sich mit den Fingern über Wangen und Nase bis hin zu ihrem schulterlangen Haar. Für einen Moment sah sie prüfend an sich hinab. Ihre Kleidung starrte vor Dreck, und sie war bis auf die Haut durchnässt.
»Kann ich etwas für Sie tun, oder Sie irgendwohin begleiten?« Obwohl es immer noch aussah, als ob er jeden Moment lächeln würde, blieb seine Miene bemerkenswert neutral.
»Nein, danke«, entgegnete Viktoria. »Wir fliegen heute noch weiter. Unser Camp liegt rund sechzig Kilometer nordwestlich. Ich gehöre zu einer deutsch-russischen Wissenschaftsexpedition, die morgen am Chekosee ihre Arbeit aufnimmt.« Mit einem Nicken wies sie zu den Helikoptern hin.
»Aha«, sagte der Mann nur. »Na, dann viel Erfolg.« Er hob die Hand, wie zu einem abschließenden Gruß und stieß einen lang gezogenen Pfiff aus. Der Wolf, der zwischenzeitlich wieder mit den Jungen um den Ball gerungen hatte, folgte ihm auf dem Fuß.
Viktoria schaute den beiden Gestalten noch eine Weile nach, bis sie zwischen den windschiefen Holzhäusern verschwunden waren. Erst dann wurde ihr bewusst, dass ihr merkwürdiger Retter den letzten Satz in Deutsch gesprochen hatte.
Am frühen Nachmittag machte sich die Expedition unter der Leitung von Professor Olguth endlich auf den Weg zum Chekosee, der mit einem Durchmesser von knapp fünfhundert Metern auf Fotos eher wie ein größerer Teich wirkte. Mit einem ohrenbetäubenden Dröhnen hoben die Helikopter im Abstand von jeweils einer halben Stunde ab. Bashtiris Luxusgefährt setzte zuerst zum Abflug an. Zur Überraschung der meisten Anwesenden war er gewillt, das bescheidene Camp in den nächsten Wochen mit den Wissenschaftlern zu teilen.
Beim Landeanflug auf die einzig befestigte Stelle am See wich die Verwunderung unter den Teilnehmern echtem Erstaunen. Bashtiris Voraustrupp hatte ganze Arbeit geleistet. Bereits seit Wochen hatten Arbeiter |45| von TAIMURO die sumpfigen Areale an einigen Uferstellen des Sees trockengelegt und nicht nur einen größeren Hubschrauberlandeplatz geschaffen, als man ihn von früheren Zeiten her kannte, sondern gleich ein ganzes Camp errichtet. Unterhalb eines stattlichen, bewaldeten Hügels schmiegten sich sechs in Reih und Glied aufgestellte moderne Flachbaubaracken in die dichte Baumlandschaft. Umrahmt von einem hohen Metallzaun mit einer geteilten Stacheldrahtkrone, glich die Anlage eher einem militärischem Lager als einem Wissenschaftscamp, wie Viktoria unangenehm berührt feststellte. Unterstrichen wurde diese Vorstellung von einem mindestens fünf Meter hohen Sendemast mit einer begehbaren Abschlussplattform, den man direkt neben dem Camp installiert hatte.
Kolja hingegen, der im Helikopter direkt neben Viktoria saß, grinste zufrieden, als die Maschine zur Landung niederging.
»Wer Waisenhäuser baut, kann sich auch eine vernünftige Unterbringung inmitten der sibirischen Taiga leisten«, meinte er abschätzend. »Es gibt hier sogar eine finnische Sauna«, fügte er aufmunternd hinzu, als ob er Viktorias Unbehagen erraten hätte.
Wie sich kurz darauf herausstellte, hatte man neben der Sauna sogar an eine Krankenstation gedacht. Eine hünenhafte Ärztin, die offenbar auf eine testosterongeschwängerte Karriere als Ringerin zurückblicken durfte, empfing sie mit strenger Miene.
Frau Doktor Elena Parlowa, wie die von Bashtiri engagierte Ärztin zur Begrüßung vorgestellt wurde, war für medizinische Tests zuständig, die parallel zu den geophysikalischen Untersuchungen an freiwilligen Probanden durchgeführt werden sollten. Es kursierten Gerüchte, dass sich das Wachstum der Bäume durch die
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