Schamanenfeuer: Das Geheimnis von Tunguska
allem, was Viktoria wusste, eine uralte Handelsstadt für Pelzhändler und Abenteurer. Auf den schlecht ausgebauten Straßen zwischen den verschachtelt stehenden Holzhäusern und Wellblechhütten sah man kaum eine Menschenseele. Ab und an fuhr ein Auto vorbei, und ein Hund bellte.
Viktorias Blick fiel auf die drei Helikopter, die mit herunterhängenden Rotorblättern am Rande eines provisorischen Fußballfeldes auf den nächsten Start warteten. Ein Stück entfernt stoben zwei Jungen in abgetragenen Hosen und lappigen Sweatshirts durch den Matsch |42| einem zerbeulten Lederfußball hinterher. Sie mochten vielleicht acht und zehn Jahre alt sein, und ihre Gesichter hatten unzweifelhaft asiatische Züge: schräg stehende Augen, schwarzes, kurz geschnittenes Haar und runde Wangen, die unter der Anstrengung geradezu glühten. Wenn sie lachten, zeigten sich ihre weißen Zähne, und ihre Augen verwandelten sich in kleine Schlitze, was ihre Begeisterung noch eindrücklicher erscheinen ließ. Zusammen mit einem nassen, total verdreckten Hund rannten sie um die Wette, und es stand außer Frage, wer den Ball zuerst erreichen würde. Der Hund hatte seine Zähne bereits in das Leder geschlagen, als einer der Jungen auf ihn zulief, um ihm den Ball wieder abzunehmen. Das große Tier duckte sich kampfbereit und knurrte gefährlich leise, während es augenscheinlich nicht bereit war, seine Beute wieder herzugeben. Bei näherer Betrachtung fuhr Viktoria der Schreck in die Glieder. Das war kein Hund, sondern ein Wolf. Daran gab es nicht den geringsten Zweifel.
Dass es hier von Wölfen und Bären nur so wimmelte, hatte sie des Öfteren von besorgten Freunden zu hören bekommen, die mit einer Mischung aus Faszination und Ablehnung ihre Reisevorbereitungen verfolgt hatten.
Im Grunde genommen hatte Viktoria keine Angst vor Hunden, aber ein Wolf war kein Hund, und wer wusste schon, ob dieses Tier nicht die Tollwut hatte. Ihr Vater, ein ehemals passionierter Jäger, hatte ihr einmal erzählt, dass Wölfe niemals die Gegenwart des Menschen suchten. Es sei denn, sie waren krank oder hungrig.
Als der kleinere der beiden Jungs sich immer weiter dem Wolf näherte, vergaß Viktoria alle Angst, zumal kein anderer Erwachsener zu sehen war.
»Nicht anfassen! Komm sofort hierhin!«, schrie sie dem Kind zu.
Der Junge schaute sich überrascht um, und auch der andere hielt im Gehen inne und setzte eine fragende Miene auf. Hatten die beiden sie verstanden, oder war ihr Russisch zu schlecht?
Der kleinere von beiden schüttelte den Kopf und lachte nur, dann setzte er sein Vorhaben, dem Tier den Fußball wieder abzunehmen, unbekümmert fort.
Obschon ihre innere Stimme zur Vorsicht mahnte, begann Viktoria, quer über den Platz zu laufen, um das Kind vor dem Raubtier zu retten.
|43| Der Wolf ließ sofort den Ball fallen und stürmte plötzlich auf sie zu. Viktoria stoppte noch im Lauf und rutschte trotz der Profilsohlen auf dem glitschigen Boden der Länge nach aus. Ihr Ellbogen bohrte sich in den weichen Untergrund, und ihre Kleidung hatte sich im Nu mit brauner Brühe vollgesaugt. Doch das war noch das geringere Übel. Der Wolf stand nun abwartend über ihr und hechelte ihr mit heraushängender Zunge seinen schlechten Atem ins Gesicht, die Zähne bedrohlich sichtbar zwischen den rosigen Lefzen.
» Ajaci! Xu! Cähi !« Die Stimme klang dunkel und streng. Der Wolf schaute unterwürfig auf, während ein langer Speichelfaden auf Viktorias Wange tropfte. Erst als das Tier von ihr abließ und zur Seite sprang, wagte sie die nasse Stelle in ihrem Gesicht mit dem Ärmel wegzuwischen.
»Es tut mir leid.« Die dunkle, raue Stimme hatte sich rasch genähert und war dabei übergangslos vom Ewenkischen ins Russische gewechselt. »Haben Sie sich verletzt?«
Erst jetzt getraute sich Viktoria aufzuschauen. Die Augen des Mannes waren leicht schräg gestellt. Dabei erschien ihr die Farbe der Iris so grau und gleichzeitig so intensiv wie der Blick des Wolfes. Der Mann mochte Anfang dreißig sein, und dem Aussehen nach war er weder ein typischer Ewenke noch ein Russe. Die langen, tiefschwarzen Haare trug er zu einem losen Zopf im Nacken gebunden, und seine ausdrucksvollen Züge mit dem dunklen Dreitagebart kamen ihr reichlich verwegen vor. Während Viktoria immer noch zu ihm aufsah, wirkte seine Gestalt geradezu riesig, und mit seinen muskelbepackten Schultern stand er den Kerlen in Sergejs Söldnertruppe in nichts nach. Allerdings trug er keinen schicken Anzug,
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