Schamanenfeuer: Das Geheimnis von Tunguska
halbes Jahr nach Amerika begleitet. Während er sich in Pittsburgh mit Turbinentechnik beschäftigte, |54| konnte ich in Long Island Studien an Teslas Hochspannungsanlage betreiben. Es ging dort unter anderem um den Versuch, große Mengen von Energie durch den Äther zu schicken. Ohne Kabel, versteht sich. Das war, bevor ich nach Sankt Petersburg kam, um hier meinen Abschluss als Ingenieur zu machen.« Leonard hoffte inbrünstig, dass der Geheimrat von seinen Referenzen beeindruckt sein würde und dass ihn diese Tatsachen wieder in das Licht eines rechtschaffenen Studenten rückten, der es nicht fertigbringen würde, Juden zu erschlagen oder sich gegen den Zaren zu erheben.
Das Gesicht des Geheimdienstmannes drückte in jedem Fall Zufriedenheit aus, und Leonard wunderte sich, warum man ihn erst jetzt nach seinem studentischen Werdegang befragte. Bisher hatte man nur fortwährend auf seinen angeblichen politischen Neigungen herumgehackt.
Michajloff kehrte unvermittelt an seinen Schreibtisch zurück und setzte sich in seinen Lehnstuhl.
»Ich will, dass Sie einen Brief an Ihre Eltern schreiben«, sagte er knapp und öffnete eine seitliche Schublade, der er Papier und einen Füllfederhalter der Marke Soennecken entnahm, um es seinem verwirrten Gegenüber hin zu schieben.
Endlich, dachte Leonard erleichtert. Bisher hatte man ihm jeglichen Kontakt zur Außenwelt verwehrt. Für einen Moment fiel alle Beschwernis von ihm ab. Innerlich dankte er Gott dem Herrn für seine Gnade, und er dankte auch Nikolaj Michajloff, der offenbar eingesehen hatte, dass es geradezu unmöglich war, einen intelligenten jungen Mann völlig zu Unrecht in die Verbannung zu schicken, und das ohne vorherigen Kontakt zu seinen engsten Anverwandten.
Mit zitternden Händen nahm Leonard den Füllfederhalter entgegen und überlegte einen Moment, was er schreiben sollte.
»Moment«, warf Michajloff ein. »Ich diktiere Ihnen, was Sie zu Papier zu bringen haben.«
Leonard schluckte, bevor er aufsah und den Geheimrat mit einem ungläubigen Blick bedachte. Nun gut, sagte er zu sich selbst, Zensur war eine alltägliche Sache im Zarenreich und erst recht in Sankt Petersburg. Keine deutsche Zeitung konnte behaupten, nicht zensiert zu werden. Vielleicht hatte Michajloff Bedenken, er würde von der an |55| ihm verübten Folter schreiben oder gar von dem beinahe vollstreckten Todesurteil. Doch das hätte Leonard ohnehin nicht gewagt. Und so wartete er geduldig, bis der Offizier von neuem das Wort ergriff.
»Lieber Vater, liebe Mutter«
, begann Michajloff, und Leonard führte die Feder in zunehmender Verwunderung über das Papier.
»Ich war Euch immer ein guter Sohn, und ich hoffe, dass ich Euch nicht zu arg enttäusche, wenn ich Euch hiermit gestehe, dass ich trotz all Eurer Fürsorge und Liebe vom Wege abgekommen bin …«
Anders hätte ich auch nicht begonnen, schoss es Leonard durch den Kopf. Schließlich schrieb er aus einem der berüchtigtsten Gefängnisse Russlands, in dem Staatsfeinde seit 1872 festgesetzt und gleich darauf im ansässigen Gericht durch den Festungskommandanten verurteilt wurden.
»Denkt nicht, dass es Euch an Einfluss und Strenge gefehlt hat und Euch eine Schuld trifft, in welcher Weise auch immer, dass ich den Pfad der Tugend verlassen habe …«
Leonard musste an Eisenstein denken, der in weiser Voraussicht etwas Ähnliches geäußert und dessen Leben danach ein so jähes, unvermutetes Ende genommen hatte.
»Ich habe große Schuld auf mich geladen und einen Menschen getötet …«
Leonard stutzte und hielt so unvermittelt inne, dass ein Klecks Tinte auf den Brief tropfte.
Michajloff reichte ihm Löschpapier und sah ihn auffordernd an.
»Weiter!« Seine Stimme klang hart.
Leonard atmete tief durch. Widerstand keimte in ihm auf.
»Ich habe Eisenstein nicht erschlagen, das sagte ich bereits.« Für einen Moment kniff er die Lippen zusammen und sah dem Geheimrat fest in die Augen. »Ich werde meine Eltern nicht anlügen. Ganz gleich, was Sie von mir verlangen und was das Gericht von mir denkt.«
Michajloffs Miene erstarrte zu Stein.
»Ihre kleine Freundin hat einen Polizisten erschossen«, resümierte er kalt, »dafür gibt es ein ganzes Bataillon von Zeugen, und ihr Bruder Alexej Davydov gehört ab sofort zu den meistgesuchten Terroristen Russlands. Und Sie und das Mädchen sind seine Komplizen. Oder wollen Sie das etwa immer noch leugnen? Denken Sie, wir lassen Sie beide so einfach davonkommen?«
|56| Michajloff
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