Schamanenfeuer: Das Geheimnis von Tunguska
einer ruppigen Geste in das geräumige Verhörzimmer. Die hohen Decken und das glänzende Parkett wirkten eher wie ein Ballsaal. Über einem honigfarbenen Jugendstilschreibtisch hing ein weiteres überdimensionales Standbild |52| des Zaren und dessen Gemahlin, Alexandra Fjodorowna oder Alice von Hessen, wie sie vor ihrer Hochzeit geheißen hatte.
Darunter stand in einer wartenden Haltung der Mann, der Leonard gestern in der Sekunde des Todes so unvermittelt den Weg in ein neues, wenn auch nicht gerade aussichtsreiches Leben offeriert hatte.
Geheimrat Nikolaj Michajloff musste ein Deutscher sein, oder zumindest war er deutscher Abstammung. Gewiss gehörte er zu jenen Emporkömmlingen, die zugunsten der besseren Karrieremöglichkeiten versucht hatten, ihrer deutschen Herkunft zu entfliehen.
Ein kurzes Lächeln, das über die schmalen Lippen des Mannes huschte, bestärkte Leonard in seiner aberwitzigen Hoffnung, dass der ranghohe Beamte wegen ihrer gemeinsamen Wurzeln vielleicht Milde walten ließ. Erst recht als Michajloff ihm völlig überraschend einen Stuhl anbot und den Wärter, der ihn hierher geführt hatte, mit einer ungeduldigen Geste nach draußen entließ.
Leonard hegte die vage Hoffnung, dass Michajloff ihm die Möglichkeit eröffnete, seinen Vater zu benachrichtigen und so vielleicht doch einen Advokaten beauftragen zu können, der die ganze Angelegenheit in ein neues Licht rücken würde. Danach würde er mit Sicherheit aus Russland ausgewiesen werden. Doch das wäre kein Unglück, weil er dann mit dem Geld seines Vaters aus dem Ausland versuchen konnte, Katja freizukaufen.
»Wir haben Ihre Wohnung durchsucht«, begann Michajloff ohne Umschweife in Deutsch.
»Damit habe ich wohl rechnen müssen«, sagte Leonard leise, und beim Anblick von Michajloffs Miene, die sich schlagartig verdüsterte, sank seine Hoffnung auf eine baldige Freilassung. Gleichzeitig beschlich ihn eine hartnäckige Furcht, dass man ihm weiteren Waffenbesitz oder Schlimmeres unterstellen konnte. Vielleicht war man sogar zu der Vermutung gelangt, dass er tatsächlich eine Bombe konstruierte und dafür verbotenerweise den elektrischen Strom von Sankt Petersburg abzapfte.
»Dieser Umstand hat Ihnen das Leben gerettet. Haben Sie eine Vorstellung warum?« Michajloff wartete nicht auf eine Antwort, sondern begann, vor dem hoch aufragenden Fenster auf und ab zu wandern. Seinen Blick richtete er dabei nach draußen, als ob er die grandiose |53| Aussicht auf die sonnenüberflutete Newa mit all ihren Lastkähnen und Ausflugsdampfern genießen wollte. Dann blieb er plötzlich stehen und rieb sich nachdenklich das bartlose Kinn, während sein durchdringender Blick auf Leonard ruhte.
»Was studieren Sie eigentlich genau?«
»Elektromechanik am Polytechnischen Institut«, antwortete Leonard. »Ich gehörte zu den ersten Studenten, die 1902 dort immatrikuliert wurden.«
»Nach allem, was wir auf dem Esstisch Ihrer Wohnung entdeckt haben, pflegen sie anscheinend noch andere Leidenschaften, oder sehe ich das falsch?«
Leonard zögerte einen Moment. Er stellte sich die Frage, worauf die Unterhaltung hinauslaufen würde, wenn er die Wahrheit sagte. Heimliche physikalische Experimente waren nicht erlaubt, schon gar nicht, wenn sie einen solch fragwürdigen Charakter hatten. Doch dann beschloss er, die Flucht nach vorn zu ergreifen, weil er ohnehin nichts mehr zu verlieren hatte.
»Ich experimentiere mit der Möglichkeit drahtloser Kommunikation auf elektronischem Weg von einem Ort zu einem anderen«, gab er zu. «Nicht nur zwischen Menschen, sondern auch von Mensch zu Maschine. Außerdem arbeite ich an Plänen zur automatischen Steuerung von bewegten Objekten.«
Michajloff sah ihn verwundert an. »Drahtlos«, wiederholte er mit gespielter Selbstverständlichkeit in der Stimme. »Zwischen Mensch und Maschine. Dann folgen Sie also den Theorien von Nikola Tesla, oder irre ich mich?«
Schlagartig wurde Leonard bewusst, dass der Mann, dessen Blick ihn gerade durchbohrte, genau über seine Aktivitäten Bescheid wusste. Und dessen glänzende Augen verrieten, dass er offenbar Leonards Begeisterung für Tesla teilte, den großen Erfinder, dem man die Genialität eines Albert Einstein nachsagte.
»Ich war ein Schüler Teslas«, antwortete Leonard mit einem gewissen Stolz in der Stimme. »Vor drei Jahren durfte ich ihn persönlich kennen lernen, und es wurde mir erlaubt, ein kurzfristiges Praktikum bei ihm zu absolvieren. Ich habe meinen Vater für ein
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