Schamanenfeuer: Das Geheimnis von Tunguska
selbst an ein Nachtgeschirr und an eine Schüssel zum Waschen hatte man |60| gedacht. Darin lagen ein Stück Seife und ein paar graue Armeehandtücher.
»Hier ist was zu essen für euch«, erklärte Subbota mit starrer Miene. »Und Wasser.« Er ließ eine Kiste mit Brot, getrocknetem Fisch und Äpfeln in den Waggon heben und kurz darauf zwei eiserne Kannen, die mit einem abnehmbaren Deckel verschlossen waren. »Bis Moskau gibt es keinen Halt«, raunte er noch, bevor er ohne Ankündigung die Tür zuziehen ließ und sie mit einem schnarrenden Geräusch von außen verriegelt wurde.
Plötzlich war es dämmerig und still. Dann durchfuhr ein Ruck den gesamten Zug, und Leonard spürte, wie sich das schwere Gefährt unter stetigem Stampfen in Bewegung setzte.
Beiläufig musterte er im Feuerschein das ängstliche Gesicht seines Gegenübers. Der junge Mann hatte sich in der Nähe des Ofens in eine Ecke gekauert, als ob er der unerträglichen Situation entfliehen wollte, indem er sich unsichtbar machte.
»Wer auch immer uns in die Verbannung schickt«, murmelte Leonard tröstend, »will offenbar nicht, dass wir schon auf dem Weg dorthin verrecken.« Er hatte aufmunternd wirken wollen, doch seine Stimme klang eher fatalistisch.
»Wie ist dein Name«, fragte ihn sein Begleiter. Seine Stimme wirkte nervös, während der Feuerschein des Ofens die ansonsten weichen Züge des Mannes mit einer harten Maske aus Licht und Schatten überzog.
»Leonard Michailowitsch Schenkendorff.«
»Und was hat dich hierher verschlagen?«
»Ein Mord, den ich nicht begangen habe, und angeblich soll ich die Bolschewiki bei ihrem Aufstand gegen den Zaren unterstützt haben.«
»Und hast du?«
»Nicht dass ich wüsste«, brummte Leonard und kniff die Augen zusammen, um sein Gegenüber besser erkennen zu können. »Bis vor kurzem war ich noch rechtschaffener Student der Elektromechanik am Polytechnischen Institut und hatte mit der Politik soviel am Hut wie eine Kuh mit Eierlegen.«
»Polytechnisches Institut? Dann sind wir sozusagen Kollegen«, erwiderte die Stimme. »Mein Name ist Pjotr Antonowitsch Agollov. Ich |61| studiere Luftschiffbau und Metallverarbeitung. Ich stand kurz vor dem Abschluss, bevor man mich verhaftet hat.«
»Hast du auch einen Juden erschlagen und die falschen Freunde gehabt?«
»Einen Juden erschlagen? Gott behüte, wir haben selbst Juden in der Familie.« Pjotr Agollov krächzte vor Entrüstung. »Man hat mich einfach abgeholt, mitten in der Nacht. Auch ich soll angeblich die Bolschewiki unterstützt haben.«
»Und hast du?« Leonards Frage hatte einen lakonischen Unterton.
»Eigentlich nicht. Ab und an habe ich an heimlichen Kundgebungen teilgenommen, weil mich die Ansichten von Trotzki und Lenin faszinierten«, antwortete Pjotr zögernd. »Mein Vater war Ingenieur bei der Russisch-Baltischen Luftschifffahrtgesellschaft. Schon als kleiner Junge hat er mich manchmal mitgenommen, und ich konnte beobachten, wie die Arbeiter dort in Knechtschaft gehalten wurden. Nach seinem Tod hab ich mir geschworen, dass ich für den Fall, dass ich einmal seine Nachfolge antrete, für eine gerechtere Welt einstehen wollte.« Er schwieg einen Moment, als ob er sich sammeln müsste.
»In meiner Freizeit entwerfe ich Konstruktionspläne für Luftschiffe, die Hunderte von Passagieren für wenig Geld zu weit entlegenen Orten bringen können«, fuhr er fort. »Es ist ein Traum von mir, dass so etwas eines Tages möglich wird. Die Dritte Abteilung behauptet, das seien geheime Anleitungen für den Bau eines Kriegsschiffs, mit denen ich die Bolschewiki für einen Angriff auf den Zaren und seine Armee unterstützen würde.« Agollov schnaubte leise. »Ich habe meine alte Mutter zurücklassen müssen. Sie ist fast gestorben vor Gram, als man mich abgeführt hat. Später ließ man mich meine Schuld in einem Brief bekennen. Ansonsten hätte man sie nach meiner Verurteilung, die schon so gut wie beschlossene Sache war, enteignet und damit dem sicheren Hungertod überlassen.«
»Konntest du dir keinen Advokaten leisten? Oder hast du keine Verwandten, die für dich einstehen können?«
»Ich bin der einzige Sohn meiner Eltern. All unsere Anverwandten leben in Riga. Mein Vater hat in frühen Jahren mit ihnen gebrochen, weil meine Mutter ihnen nicht standesgemäß erschien. Er ist nach langer Krankheit vor zwei Jahren gestorben und hat uns beinahe mittellos |62| zurückgelassen. Ich durfte froh sein, dass wir mein Studium finanzieren konnten.« Er
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