Schamanenfeuer: Das Geheimnis von Tunguska
Jekatherinas Abtransport beobachten. Über Nacht hatte es |58| geschneit. Ihre Schritte waren schleppend und hinterließen kaum Spuren. Ihr schmales Gesicht war von einer ohnmächtigen Trauer gezeichnet. In einer kleinen Gruppe von aneinandergeketteten Frauen wurde sie im Schneeregen zu einem Leiterwagen geschoben, dabei brach sie immer wieder zusammen, offenbar unfähig weiterzugehen. Eine ältere, füllige Frau half ihr auf und streichelte ihr über den Kopf. Unentwegt sprach sie auf das Mädchen ein.
Leonard verspürte einen Kloß im Hals. Sollte er sich bemerkbar machen? Durch die eisernen Gitter nach draußen schreien? Dass er noch lebte und sie niemals im Stich lassen würde? Doch was würden Michajloff und seine Männer dann mit Katja anstellen? Nein, er durfte ihre Sicherheit nicht gefährden, selbst wenn es ihm schier das Herz zerbrach, zu sehen, wie sehr sie litt.
Von zwei zottigen Pferdchen gezogen, zuckelte der Wagen vom Hof, Richtung Moskauer Bahnhof, von wo aus sich die Transsibirische Eisenbahn mit Hunderten von Deportierten in Gang setzen würde.
Gelegentlich war er unfreiwilliger Beobachter beim Abtransport von Verurteilten gewesen. Immer hatte ihn spontanes Mitgefühl gepackt, selbst wenn manchmal ganze Familien den Deportierten freiwillig in die Verbannung folgten. Seine Heimat zu verlieren, jegliche gesellschaftliche Anerkennung, mit der nicht gerade rosigen Aussicht, fortan in der Wildnis ein ärmliches, unfreies Dasein zu fristen – das war ihm barbarisch erschienen.
Drei Tage später war er selbst an der Reihe, verschleppt zu werden – oder verschickt, wie man es weitaus eleganter nannte. In eine unbekannte Region unter undurchsichtigen Umständen. Doch der Wagen, der ihn zum Bahnhof bringen würde, kam nicht tagsüber und war auch nicht offen. Eine geschlossene Kutsche transportierte ihn und einen weiteren Gefangenen am späten Abend zum Moskauer Bahnhof im Südosten von Sankt Petersburg. Oberleutnant Egor Stephanowitsch Subbota, ein rothaariger, hager wirkender Adjutant der Dritten Abteilung, und vier einfache Soldaten begleiteten ihre reibungslose Abreise.
In der Kutsche sprachen sie die ganze Zeit kein Wort. Leonard beäugte mit unverhohlener Neugier seinen beleibten Leidensgenossen, |59| der ihm gegenüber, direkt neben dem verbissen dreinschauenden Offizier saß.
Der andere Gefangene war ungefähr so jung wie er, vielleicht dreiundzwanzig oder ein wenig älter. Im Gegensatz zu Leonard, der einem drahtigen Kämpfer glich, wirkte er schwammig und war von kleinem Wuchs. Sein Haupthaar hatte bereits zu schwinden begonnen, und sein leerer Gesichtsausdruck vermittelte Leonard, dass er ebenso gelitten hatte wie er selbst. Hände und Füße lagen in Ketten, die nur einen watschelnden Gang erlaubten und leise klirrten, wenn man sich hinter den Ohren kratzen musste. Dazu trug der Mann die gleichen grauen Anstaltskleider wie Leonard, zusammen mit einem wärmenden Mantel, den man ihm wohl vor der Abreise überlassen hatte. Wollhandschuhe und eine Schafspelzmütze komplettierten das Bild.
Leonards Blick glitt zu Subbotas ausdrucksloser Miene hinüber. Ob dessen Gleichmut ein gutes Zeichen war? Vielleicht wollte man nicht, dass die Gefangenen schon vor Erreichen des Ziels erfroren.
Bei Dunkelheit erreichten sie den Moskauer Bahnhof. Auf einem Sondergleis warteten bereits eine größere Anzahl Güterwaggons und eine schwarze Lokomotive, die zur Begrüßung schnaubte wie ein feuerspuckender Drache. Auf Anweisung von Oberleutnant Subbota lockerte einer der Soldaten Leonard und seinem Mitgefangenen die Ketten. Dann führte man sie zu einem separaten, geschlossenen Gefängniswagen, der von außen einem gewöhnlichen Personenwaggon glich, mit dem Unterschied, dass man die Fenster vergittert hatte. Ein wahrer Luxus gegenüber dem nächsten Waggon, der einem zugigen Viehwagen glich und in den trotz der Kälte in Decken und Mäntel gehüllte Männer und Frauen bugsiert wurden.
Das Innere des Waggons war karg, aber einigermaßen komfortabel, vor allem verfügte er über einen kleinen Kanonenofen mit Abzug, der in einer Ecke des Raumes fest mit dem Fußboden verankert war und in dessen Innerem bereits ein wärmendes Feuerchen prasselte. Dazu war ein ausreichender Vorrat an Holz und Kohle in einer hölzernen Kiste vorhanden. Zwei ausgebleichte Matratzen lagen auf dem Boden des Wagens, darauf ein paar fleckige Kissen und zwei verschlissene Wolldecken. Sogar einen Tisch mit zwei Stühlen gab es, und
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