Schamanenfeuer: Das Geheimnis von Tunguska
und selbst in zehn Meter Tiefe |74| konnte man immer noch die Oberfläche erahnen. Außerdem hatten sie ausgemacht, solange beisammenzubleiben, bis Vitaly das Zeichen zum Auftauchen geben würde. Länger als fünfzehn Minuten sollte der erste Tauchgang ohnehin nicht dauern.
Ab und an blubberten Bläschen an Viktoria vorbei. Sie war nicht sicher, ob sie von den Sauerstoffmasken der Kollegen herrührten oder vom Boden des Sees aufstiegen, von dem Kolja behauptete, dass darunter ein riesiges Gasreservoir vermutet werden durfte.
Nach ein paar Metern unter Wasser konnte sie die ersten Baumstümpfe erahnen. Wie die gestaffelten Reihen braver Zinnsoldaten schmiegten sie sich an die Hänge des Sees, und merkwürdig genug, sie schienen auch noch nach einhundert Jahren in ihrer Substanz fast vollständig erhalten zu sein. Sie waren lediglich mit Algen und undefinierbaren Ablagerungen überwuchert, welche die Zwischenräume zu benachbarten Stämmen füllten.
Mit einem plötzlichen flauen Gefühl im Magen heftete sich Viktoria an die kanariengelben Flossen ihres deutschen Kollegen, die sie im zunehmend trüber werdenden Wasser nur noch erahnen konnte. Auch wenn sie ansonsten gerne auf Svens Schutz verzichten konnte, hatte sie im Moment nichts gegen seine Anwesenheit. Zu ihrem Erstaunen schlug er eine andere Richtung ein als Vitaly. Es war, als ob er etwas gesehen hätte, das ihn interessierte. Entgegen der Abmachung begab er sich geradewegs zu einem vorstehenden Felsvorsprung, der bereits auf den Ultraschallbildern mit seiner eigenartigen Nase hervorgestochen hatte.
Viktoria folgte Theisen, unsicher, ob sie das Richtige tat. Nach einer Weile drehte er sich zu ihr um und gab ihr mit ein paar hektisch anmutenden Zeichen zu verstehen, dass sie näher herankommen solle. Irgendetwas ragte aus dem Gestein heraus. Von weitem erschien es wie ein verbogener Eisenträger, doch er war nicht verrostet, und ein paar regelmäßige Löcher im Material zeigten, dass es sich tatsächlich um einen Gegenstand handelte, der nicht zufällig hier lag, sondern nach dem Unglück hierher gelangt sein musste. Sven hatte die Stange, die offenbar aus Aluminium bestand, mit beiden Händen gefasst und zerrte daran, in dem er sich mit seinen Füßen am Felsen abstützte.
Sprudelnde Luftblasen, die seinem Atemgerät entwichen, ließen |75| seine starke Anstrengung erkennen. Doch er bemühte sich vergeblich, den fremden Gegenstand oder wenigstens ein Stück davon aus dem Stein zu befreien. Der Fund versetzte ihn in Aufregung. Mit ein paar hektischen Fingerzeichen gab er Viktoria zu verstehen, dass sie ihm behilflich sein sollte.
Sie konnte sich nicht erinnern, dass man bei vorangegangenen Tunguska-Forschungen je ein solches Objekt entdeckt hätte – schon gar nicht in diesem See. Es hatte lediglich Gerüchte um einen metallischen Block gegeben, den Rentierhirten Jahre nach der Katastrophe in dieser Gegend gefunden hatten. Angeblich handelte es sich um ein undefinierbares Artefakt, welches merkwürdige Funken schlug, wenn man es zu Boden warf. Die Universität von Moskau hatte sich seiner Untersuchung angenommen. Doch genaue Ergebnisse waren nie publiziert worden, und so gehörte auch dieses Gerücht zu den vielen rätselhaften Geheimnissen, die zu unseriösen Spekulationen ermutigten.
Bei dieser Expedition hatte Professor Rodius jedoch von Beginn an darauf bestanden, dass es sich um eine seriöse Forschungsreise handelte, die selbstverständlich jedwede UFO-Fantasterei außer Acht lassen würde.
Mit ein paar kräftigen Zügen näherte sich Viktoria soweit Sven Theisen, bis sie ihn an der Schulter zu fassen bekam, um ihm Einhalt zu gebieten. Es hatte keinen Sinn, sich unnötig zu verausgaben. Schließlich hatte man draußen am Ufer schweres Gerät, das man mit einer passenden Vorrichtung auch hier auf dem See einsetzen konnte. Außerdem stand ihnen ein Mini-U-Boot zur Verfügung.
Viktorias Kollege ließ sich aber nicht beirren. Mit einem unbezwingbaren Entdeckerdrang, der offenbar zu seinen bevorzugten Charaktereigenschaften gehörte, zog und zerrte er wie von Sinnen an der verbogenen Aluminiumstange.
Plötzlich spürte Viktoria ein leichtes Beben. Im ersten Moment dachte sie an eine Halluzination, doch dann sah sie, wie sich der Fels unter ihr und damit der ganze Hang in Bewegung setzte. In Zeitlupe rutschte der gesamte Untergrund Stück für Stück abwärts. Sie hatte schreien wollen und dabei ganz vergessen, dass sie eine Sauerstoffmaske
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