Schamanenfeuer: Das Geheimnis von Tunguska
Leonid. »Ich bin kein kleiner Junge mehr, Babuschka.« Mit seiner Linken vollführte er eine beschwichtigende Geste. »Weder Bashtiri noch dem FSB ist es gelungen, mich in Tschetschenien zu erwischen. Also warum sollte es ihnen ausgerechnet in meiner Heimat gelingen? Da, wo ich lebe, kommen sie nicht hin. Es ist ihnen zu ungemütlich.«
»Tschetschenien!« Ihre Stimme klang verbittert, während sie langsam den Kopf schüttelte. »Was könnte ungemütlicher sein. Mistkerle wie Bashtiri stört so etwas nicht. Deshalb verfügen sie über Männer wie dich, denen keine Hölle zu heiß ist. Sag bloß, du hast das schon vergessen?«
»Babuschka …« Leonids Stimme klang ungeduldig. »Ich lasse mich nicht erwischen.« Er lächelte seine Großmutter herausfordernd an und zwinkerte ihr mit einem Auge zu. »Alles klar?«
»Gut«, sagte der Großvater und klopfte sich auf die Schenkel, während er seinen Enkel mit einem prüfenden Blick bedachte. »Dann mach dich auf den Weg! Du kannst das Pferd nehmen. Ich brauche es nicht. Wäre schön, wenn du in einer Woche wieder vorbeischauen und mir Bericht erstatten würdest.«
Gegen Mittag machte sich eine erste Gruppe von Wissenschaftlern zum See auf. Die Sonne spiegelte sich gleißend im Wasser; es war weit wärmer als am Tag zuvor. Unter den interessierten Blicken von Sven Theisen schälte sich Viktoria in Ufernähe aus ihrem Jogginganzug und brachte einen schlichten blauen Sportbadeanzug zum Vorschein, der trotz seiner Einfachheit nicht nur die wohlwollenden Blicke ihres deutschen Kollegen hervorrief. Vitaly Jurenko, ein sportlich durchtrainierter Dozent aus Moskau, mit dem sie am Abend zuvor – auf sein hartnäckiges Drängen hin – ihren ersten Wodka auf Ex getrunken hatte, grinste verlegen, als sie ihn dabei erwischte, wie er seinen Blick an ihr Dekolleté heftete.
Professor Olguth, der diesen Umstand nicht zu bemerken schien, hatte Viktoria bei der improvisierten Wodkataufe am Abend zuvor in sein Tauchteam aufgenommen. Zusammen mit Doktor Theisen und |71| zwei weiteren russischen Experten sollte sie in Ufernähe in bis zu zehn Metern Tiefe Sedimentproben aufsammeln. Gleichzeitig würde ein Katamaran in der Mitte des Sees in etwa fünfzig Meter Tiefe weitere Bohrungen vornehmen.
»Wenn hier vor einhundert Jahren ein Meteor niedergegangen ist«, resümierte Professor Rodius, der mit einem Fernglas in Ufernähe stand, »muss ein Einschlagskrater zu finden sein.«
Rodius teilte Olguths Überzeugung, dass Reste dieses Kraters in diesem See zu finden waren. Erste Untersuchungen hatten magnetische Abweichungen im Gelände zutage gebracht, die verstärkt auf Eisenanteile im Gestein zurückzuführen waren. Zudem wiesen die Sedimentablagerungen am Grunde des Sees, wie man bei Ultraschalluntersuchungen festgestellt hatte, verdächtige Formen und eine ungewöhnliche Dichte auf. Mit einem Tauchboot hatte man bereits Reste umgestürzter Bäume in etwa zwanzig Meter Tiefe entdeckt, ein Zeichen dafür, dass der See vor der Explosion im Sommer 1908 in dieser Form noch nicht existiert hatte.
Während Viktoria Zug um Zug den wärmenden Taucheranzug anlegte, sinnierte sie darüber, ob die Theorien des Professors sich diesmal endgültig bewahrheiten sollten.
Dass hier am frühen Morgen des 30. Juni 1908 etwas niedergegangen war, dessen Auswirkung sich in kaum fünf Tagen zum einhundertsten Mal jährte, stand außer Frage. Noch Jahre nach dem katastrophalen Ereignis waren die verheerenden Folgen zu sehen gewesen: Tausende Quadratkilometer verwüstetes Land, siebzig Millionen umgeknickter Bäume. Ganz zu schweigen von den unmittelbaren Auswirkungen der bis heute ungeklärten Explosion. Ganze Herden toter Rentiere und Tausende verängstigter Menschen, Ewenken wie Russen, die das Spektakel aus 65 Kilometer Entfernung in Vanavara und Umgebung mitbekommen hatten. Vielleicht waren sogar einige von ihnen zu Tode gekommen, weil sie sich in unmittelbarer Nähe des Ereignisses aufgehalten hatten. Gleichzeitig hatten mehrere Erdbeben die Oberfläche des Planeten erschüttert. Ihre seismografischen Auswirkungen waren bis Sankt Petersburg zu spüren gewesen. Mit den einhergehenden seltsamen Lichterscheinungen war es an drei aufeinander folgenden Nächten sogar möglich gewesen, nachts um zwei in ganz Europa die Zeitung zu lesen.
|72| Viktoria ließ ihren Blick über den See schweifen. Ruhig und unverdächtig lag er da. Umrahmt von einer ebenso harmlos erscheinenden Landschaft aus grünen
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