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Schamanenfeuer: Das Geheimnis von Tunguska

Schamanenfeuer: Das Geheimnis von Tunguska

Titel: Schamanenfeuer: Das Geheimnis von Tunguska Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martina André
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schleifender Bremsen aus einem elenden Schlaf gerissen. Tomsk. Ein Blick aus den vergitterten Fenstern gab ihm letzte Gewissheit. Während die meisten Deportierten aufgefordert wurden, den Zug zu verlassen, hielt man ihn und seinen Kameraden regelrecht unter Verschluss. Sein Herz setzte für einen Moment aus, und er glaubte, es würde zerbrechen, als die Fahrt nach einer Stunde fortgesetzt wurde. Die Vorstellung, dass Katja ganz in der Nähe in einem abgelegenen Lager ihr neues, grausames Leben fristete, nahm ihm schier den Atem.
    Mit einem pfeifenden Signal und unter einem schmauchenden Stampfen fuhr der Zug nach einer knappen Woche endlich in Krasnojarsk ein. Der Bahnhof war nicht mit den Bahnhöfen der Großstädte zu vergleichen, und doch hatte er eine Bedeutung – auch wenn sie nicht gerade erfreulich erschien.
    Die Aneinanderreihung von endlosen Schuppen und Lagerhäusern gehörte zu einem Versorgungslager für den Russisch-Japanischen Krieg. Von hier aus zogen Soldaten zu den Schlachtfeldern im Osten des Landes, tauschten Pferde und Verpflegung, bevor sie in der grausamen Symphonie des Sperrfeuers ihr Leben verloren. Und von hier aus ging es für viele Deportierte, die nicht soviel Glück hatten, in Tomsk zu landen, weiter nach Sachalin und zu den noch weit unzugänglicheren Lagern in der Tiefe Sibiriens, die weder mit einem Zug noch mit einem gewöhnlichen Wagen zu erreichen waren. Rentierschlitten – im besten Fall – oder Pferdeschlitten waren die einzige Möglichkeit, relativ rasch und unversehrt am Ort des Geschehens einzutreffen.
    Dass vom weiteren Verlauf der Reise nicht selten das Leben abhängen konnte, erfuhr Leonard von Aslan Kondrashow. Der magere, schwindsüchtig aussehende Turkmene hatte in einer beheizten Bahnhofsbaracke auf den Zug aus Moskau gewartet. Auch er war verschleppt worden und trug immer noch Ketten an Händen und Füßen. Er war Muslim, wie Leonard erfuhr, als er einen kurzen, heftigen Aufruhr beobachtete, weil die Kosaken Aslan das Beten auf dem Boden verwehrten. Aslan schlug um sich, und einer der Kosaken fuhr in seine dunklen Locken und stieß seinen Kopf an die Wand. Dabei bezeichnete er ihn als besserwisserisches Dschadidenschwein, das er aufschlitzen und ausweiden werde, sobald sich die Gelegenheit dazu ergebe. Aslan lief das Blut aus der Nase, |79| und obwohl er taumelte, hatte sein Blick den Stolz eines verurteilten Revolutionärs, der selbst den Tod nicht scheut, um für seine Überzeugungen zu kämpfen. Dass er etwas Besonderes sein musste, erkannte man an der dreispännigen Troika, mit er, schwer bewacht wie ein leibhaftiger Zarenmörder, aus dem Süden gekommen war.
    Leutnant Egor Subbota, der Leonard und Pjotr bis hierher begleitet hatte, ließ sie nicht aus den Augen. Wie bei einem Wiesel auf Beutezug wanderte sein Blick hin und her, während er sich mit dem Anführer der Kosaken über die Gefangenen beriet. Anschließend wurde ihnen Aslan als dritter Mann zugeteilt. Auch er war für ein Lager bestimmt, das keinen Namen hatte und dessen Weg dorthin auf keiner Karte verzeichnet war.
    Obwohl man gewöhnlich auch zu Nachtzeiten fuhr, erschien es zu spät, um noch aufzubrechen. Bereits jetzt zeigte das Spiritusthermometer minus 33 Grad, und es fehlte zudem an billigem Pelzwerk, das man vor der Weiterreise an die Deportierten hätte verteilen müssen. Außerdem benötigte man entsprechende Schuhe, ebenfalls mit Pelz gefüttert und wasserdicht. Die wenigsten besaßen die passende Ausrüstung, und es nutzte niemandem etwas, wenn den Deportierten die Zehen oder ganze Füße abfroren, noch bevor sie das Lager erreicht hatten.
    Die Frau des örtlichen Lagerverwalters, der ansonsten für die Ausgabe der Kleider zuständig war, lag in den letzten Wehen. Bereits am Nachmittag hatte ihr Mann den Weg nach Hause angetreten. Eine schwere Geburt stehe bevor, hieß es. Vor morgen früh wurde er nicht zurückerwartet. So blieb den Reisenden nichts anderes übrig, als in einer der spärlich beheizten Bahnhofsbaracken die Nacht zu verbringen.
    Außer Leonard und seinen beiden Kameraden, die weiterhin gesondert bewacht wurden, hielten sich noch gut zwanzig andere Deportierte in der karg möblierten Stube auf. Die meisten von ihnen waren erschöpft und hatten verängstigte Gesichter.
    »Gebt ihnen was zu essen!«, rief Subbota über Tische und Bänke dem Pächter der Gaststube zu. Ein Heer von hoffnungslosen Augen verfolgte den fettleibigen Wirt mit Blicken und wartete stoisch – auf was

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