Schamanenfeuer: Das Geheimnis von Tunguska
auch immer.
Mit der mürrischen Miene und Beweglichkeit einer hundertjährigen Schildkröte servierte der Mann schließlich den völlig ausgehungerten |80| Menschen eine Suppe – Teller für Teller, während die Portionen immer geringer und zusehends dünner ausfielen, bis die letzten Ungeduldigen sich lautstark beschwerten. Der dickbäuchige Kerl, dem etliche Zähne fehlten, störte sich nicht daran. Wortlos spendierte er den hohen Herrn Militärs, die sich an Ente und Bratwurst labten, einen Wodka.
In einem kurzen, heimlich geführten Gespräch erfuhr Leonard, dass man Ivan Ivanowitsch Wassiljoff, einen Schmied aus Wyborg, und dessen vierköpfige Familie bis Tomsk in einen Viehwagen gepfercht hatte – zusammen mit achtunddreißig anderen Personen und deren Gepäck, das aus rund sechzig Kisten bestand. Erst nachdem die Hälfte der Reisenden in Tomsk den Waggon verlassen hatte, war die Fahrt erträglicher geworden. Aber immer noch mussten zwanzig Gepäckstücke umgeladen werden. Wassiljoff fluchte leise, während seine eingeschüchterte Frau, eine rundliche Matrone mit welkem Gesicht, leise zu jammern begann. Ein etwa achtjähriger Junge klammerte sich ängstlich an ihren Rockzipfel. Er hustete immer wieder, und seine älteste Schwester wischte ihm mit einem schmuddeligen Lappen stetig den Rotz von der Nase. Als sie aufschaute, wurde Leonard für einen Moment von ihren hellbraunen Augen gefesselt. Sie schenkte ihm ein kurzes, unauffälliges Lächeln, das über ihren herzförmigen Mund flog, wie auf der Flucht vor ungebetenen Beobachtern. Ihr nächster Blick galt ihrem immer noch zeternden Vater. Leonard konnte sich denken, dass er ein strenger Patriarch war, der trotz der plötzlichen Leibeigenschaft nicht auf den strikten Gehorsam seiner Familie verzichtete. Noch einmal trafen sich ihre Blicke, und Leonard lächelte zurück, ebenso kurz und unauffällig. Hastig schaute sie weg und strich sich eine rotbraune Strähne unter die Haube, die ihr weiches, langes Haar bändigte. Dann glättete sie mit beiden Händen ihr dunkles Wollkleid, das trotz seiner Einfachheit ihre schlanke Figur und ihre hoch sitzenden Brüste hinreißend zur Geltung brachte. Wollte sie mit ihm flirten? Hier in dieser Einöde und unter diesen unmöglichen Umständen? Leonard verscheuchte diesen Gedanken, weil er ihm ganz und gar ungehörig erschien. Nicht weil er diesen schüchternen Annäherungsversuch missbilligt hätte, sondern wegen Katja. Sie würde ihm niemals mehr aus dem Kopf gehen; der Anblick des grazilen Mädchens ließ die Sehnsucht nach ihr nur noch heftiger aufblühen.
|81| Plötzlich dröhnte das lautstarke Gebrüll der Kosaken durch die Schankstube. Frauen und Kinder schauten erschrocken auf. Es war nicht bei einem Wodka geblieben, und es schien nur eine Frage der Zeit zu sein, bis der erste Soldat ausfallend wurde. Jeder Einzelne dieser Kerle war bis an die Zähne bewaffnet, und deren wilde, ungepflegte Bärte taten ihr Übriges, um nicht nur die Frauen einzuschüchtern.
»He, ihr da!«, brüllte Subbota mit heiserer Stimme und bedachte Leonard und seine beiden Begleiter mit einem eindeutigen Blick. »Anstatt zu quatschen und Maulaffen feilzuhalten, könnt ihr euch nützlich machen.« Mit großen Schritten kam er auf sie zu, einen Schlüssel in der Hand, und befreite sie wortlos von den Fußfesseln. »Ihr könnt beim Ausladen des Gepäcks helfen«, erklärte er seine unverhoffte Mildtätigkeit.
Die Gepäckstücke der Deportierten mussten in einen der vielen verfallenen Lagerschuppen getragen werden, von wo aus man sie am nächsten Tag auf klapperige Frachtschlitten verladen würde.
Während die verängstigten Menschen aus Sicherheitsgründen im Gastraum der Schänke bleiben mussten, scheuchte man Leonard und seine Kameraden nach draußen auf den verschneiten Bahnsteig. Vielleicht befürchtete man den ein oder anderen Fluchtversuch, wenn man die ganze Bande nach draußen entließ. Aber wer sollte hier schon fliehen und vor allem wohin?
Es dämmerte bereits und war so kalt, dass Leonard beim Atmen der Schnurrbart gefror. Der Zug war abfahrbereit, nachdem sie auch die letzte Habe aller Anwesenden herausgeholt und auf dem Bahnsteig abgestellt hatten. Mit Blick auf das schummerig beleuchtete Bahnhofshaus blieb ihm die Frage, ob alle Reisenden die Nacht in einem einzigen Raum verbringen mussten, womöglich auf Tischen und Bänken oder blank auf dem Boden, ohne jegliches Unterzeug.
Der Gasthof verfügte nur über ein Dutzend
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