Schamland
inmitten einer reichen Gesellschaft. »Darum, nicht permanent über den Tisch gezogen zu werden, von Ämtern und Amtspersonen.« Und damit sind die Tafeln nur ein Mosaikstein in einem viel größeren Bild der Gesellschaft, aus dem nach und nach immer mehr Menschen verschwinden. So als würde die Farbe, mit der sie gemalt wurden, nach und nach ausbleichen. »Teilhabe an der Gesellschaft ist ein ständiger Kampf«, beklagt sie sich, »wer arm ist, wird in dieser Gesellschaft nicht mehr wahrgenommen. Wir vegetieren auf der untersten Stufe. Und verpassen den Rest.«
Man spürt die mühsam unterdrückte Wut in diesen Sätzen. Und wie sehr sie die Welt der Armut, die Welt aus Notwendigkeiten, Trivialitäten und Zwängen satthat. Es ist das genaue Gegenteil der Welt, die sie so sehr liebt, der Welt der Tänzer, der Leichtigkeit, des Schwebenden, des Genusses. Der Welt der in buntes Licht getauchten ausdrucksstarken Körper. In der einen Welt ist der Körper ein kunstvoll eingesetztes Instrument, ein Medium und Ideal. In der anderen Welt, der Welt der Tafeln, ist der Körper nur lästige Hülle, ein zu füllender Bauch.
Brötchen in Scheiben
Eine Serie von Gesprächen mit älteren, alleinstehenden Frauen half mir zu verstehen, warum Altersarmut mitten unter uns so unsichtbar ist. Frau P. (64) aus Süddeutschland ist erwerbsunfähig. Als ich sie zum ersten Mal treffe, sehe ich in ihr zunächst nur eine ältere, elegante Dame. Keine Spur von Altersarmut. Ein paar Wochen später betrachte ich von ihrer winzigen Dachwohnung aus Liegefahrradfahrer und Dalmatiner-an-der-Leine-Führer auf der Straße – die Welt des bürgerlichen Wohlstands in einer Beamtenstadt. Sie wohnt zwar hier, ohne jedoch richtig dazuzugehören. Ihr Leben, eine Serie von Pannen, wie sie selbst sagt. Schon während des Studiums erlitt sie einen Autounfall. »Kurz vor meiner Zwischenprüfung bin ich dann schwanger geworden, der zweite Unfall. Und dann habe ich geheiratet. Das war der dritte Unfall«, kommentiert sie ironisch. Erst mit fast 40 fand sie eine Stelle. »Mit null Berufserfahrung«, wie sie zugibt. »Seitdem habe ich viele unterschiedliche Stellen gehabt. Man kann es auch positiv ausdrücken. Ich war sehr flexibel.« Als dann eine chronische Krankheit dazu führte, dass sie erwerbsunfähig wurde, verlor sie ihr Gleichgewicht. »Jeden Tag. Immer wieder neu versuche ich seitdem in die Balance zu kommen.«
Das aber ist mit einer Minimalrente ein schwieriges Unterfangen. »Seit 15 Jahren erhalte ich Frührente«, berichtet sie. »In einem Jahr, mit 65, werde ich vier Euro mehr bekommen, als mir mit Grundsicherung zustehen würde. Ich gehöre dann offiziell nicht zu den Armen.«
Wie es sich als arme Witwe lebt, weiß Frau B. (63) aus Norddeutschland. Sie erhält eine Witwenrente in Höhe von 587 Euro. »Davon muss ich alles bezahlen: Miete, Strom, einen Kredit, Rechnungen«, klagt sie. Frau R. (71) aus Ostdeutschland ist ebenfalls Witwe. Nach einem knallharten Berufsleben als Kellnerin erhält sie 730 Euro Rente. »Davon gehen schon 380 Euro für die Miete ab«, rechnet sie vor. »Die Hartz- IV -Empfänger meckern, aber die haben mehr Geld als ich.« Es ist aber nicht allein die Höhe der Rente, die es den Frauen schwermacht. Vielmehr fühlen sie sich ungerecht behandelt. Ein Beispiel dafür ist Frau M. (68). Sie hat drei Kinder und ist geschieden. Ihre Stimme bricht, als sie erzählt. »Ich finde das irgendwo ungerecht, wenn man alleine ist. Ich habe meine Kinder selbst großgezogen, habe meine Eltern bis zum Schluss gepflegt. Ich war arbeiten, all die Jahre.« Noch deutlicher wird Frau T. (65), ebenfalls aus Ostdeutschland. »Ich habe einen kaputten Rücken. Ich habe Nierensteine. Mein Magen ist nicht in Ordnung. Und meine Medikamente muss ich selbst bezahlen. Ich bin schon zum Arzt gegangen und habe um Tabletten gebettelt!« Auch Frau H. (66) aus Ostdeutschland ist verärgert. »Das muss man sich mal vorstellen«, sagt sie entsetzt, »ich habe mein ganzes Leben lang gearbeitet, und dann so wenig Geld für die Rente. Das finde ich so schrecklich! Ich bin so wütend.«
Im Alter verlieren die Frauen ihre Rolle als Konsumentinnen und damit auch ein Stück weit ihre Rolle als Bürgerinnen. Wer kein vollwertiger Konsument ist, kann sich auch nicht als vollwertiges Mitglied der Gesellschaft fühlen. »Ich kaufe mir gerne schöne Sachen«, erklärt Frau P., »aber das geht ja nicht. Das ist ausgeschlossen.« Mit dieser Beschränkung
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