Schamland
den Notlagen ein zusätzliches Problem, das immer deutlicher spürbar wird. Kaum jemand, der ins Paradies kommt, nimmt noch in angemessener Weise an der Gesellschaft teil. Es ist daher vor allem für ältere Menschen ein Ort, der gegen Vereinsamung schützt. Das Paradies bietet einen preisgünstigen Mittagstisch (1,50 Euro) mit Suppe, Hauptspeise und Nachtisch an. Der Kaffee kostet 30 Cent. »Solidar-Esser«, die es sich leisten können, zahlen das Doppelte und können zusätzlich noch eine Spende in ein großes Sparschwein aus durchsichtigem Kunststoff werfen, das auf der Theke thront.
Das Paradies bietet aber nicht allein Essen. Es ist auch ein Zufluchtsort. Die Besucher »können sich aus dem öffentlichen Leben auf der Straße zurückziehen, sich ausruhen und erholen, sich aufwärmen«, so die Selbstbeschreibung. Anders als bei den Tafeln verzichtet man im Paradies auf Bedürftigkeitsprüfungen, Ausweiskontrollen oder andere Vorleistungen. »Hier gibt es nicht einmal eine Gesichtskontrolle«, fügt einer meiner Gesprächspartner hinzu.
Ein Sozialpädagoge leitet die oft wechselnden Hilfskräfte in der Küche und an der Theke an. Einer von diesen Kräften ist Herr T. (62). Seit einem Schlaganfall und einer Lähmung bezieht er Grundsicherung. »Das hat mich schwer mitgenommen«, berichtet er. »Andere Leute sind da weg. Ich bin froh, dass ich wieder aus dem Rollstuhl raus bin.« Das Thema Armut ist ihm bestens vertraut. Ich merke es daran, wie er mit stolzer Stimme betont, dass er »Gründungsmitglied bei Hartz IV « ist.
Sein Weg zu dieser Mitgliedschaft ist der von vielen gescheiterten Selbständigen im Land, die nie in die Rentenversicherung einzahlen konnten. Nur an den Beiträgen für die Krankenversicherung hat er nie gespart. »Da habe ich Angst gehabt! Und das hat sich ja jetzt als richtig erwiesen«, resümiert er. Ins Paradies kam er zunächst auf der Suche nach einem preiswerten Mittagessen. Irgendwann bewarb er sich als 1-Euro-Jobber, weil »das Amt« ihn zu einer »Maßnahme« verpflichtet hat. Die meisten der Gäste kennen die Wärmestube durch die »Flüsterpropaganda im Ort«. Im Paradies findet sich ein Sammelsurium sesshafter Bürger einer ehemaligen Industriestadt, Obdachlose sowie einige »Paradiesvögel auf der Durchreise« – so Herr T., der in zwei Maßnahmenperioden die Besucher ausgiebig studieren konnte.
Da gibt es den Stammtisch der älteren Frauen »aus dem echten Proletariat. Da ging immer etwas schief«, erklärt er mir. Die Rentnerinnen, alle älter als 65, kommen schon viel früher als die anderen Gäste, trinken Kaffee und essen dann bis Viertel vor zwölf. »Die kommen alle alleine, zu Hause gibt es da niemanden.« Geselligkeit spielt im Paradies eine tragende Rolle. Und deshalb bleiben alle so lange sitzen wie nur möglich. »Die gehen keine Minute vor Sendeschluss!« Eine andere Gruppe sind Bewohner des nahegelegenen Obdachlosenheims – genannt »die Einrichtung«. Sie lassen sich ihr Tagesgeld auszahlen. Einige nennen es selbstironisch »Sterbegeld«. Das Paradies hat einen guten Ruf, auch über die Stadtgrenzen hinaus. »Etliche, die auf der Durchreise sind und sonst wo schlafen, kommen immer wieder, kassieren ihre paar Euro und bleiben dann zum Essen.«
Bei einem weiteren Besuch spreche ich mit einigen Gästen, für die Altersarmut ein Teil ihres Alltags ist. Zunächst treffe ich Frau O. (90), die sehr schlecht sieht. Im Supermarkt kann sie weder Waren noch Geld richtig erkennen. Ihre Sehbehinderung ist auch der Grund dafür, dass sie zum Mittagessen ins Paradies kommt. »Das ist von heute auf morgen gekommen«, erzählt sie und fügt resigniert hinzu, dass man sie in ihrem Alter nicht mehr operieren würde. »Das lohnt sich nicht mehr.«
Später esse ich gemeinsam mit Frau H. (82) und Herrn L. (79). Wir werden, wie alle anderen auch, am Tisch bedient. Frau H. war Arbeiterin und Putzfrau. Sie lebt seit 20 Jahren von einer Witwenrente. »So habe ich mir das Leben nicht vorgestellt. Und trotzdem geht es mir gut. Das Leben geht weiter«, schreit sie. Schreien hat sie sich angewöhnt, weil ihr verstorbener Mann schwerhörig war. Ins Paradies kommt sie aus eher pragmatischen Gründen. »Ich war immer gewohnt, beim Essen mit vielen Menschen an einem Tisch zu sitzen. Was soll ich zu Hause alleine sitzen? Da komme ich doch lieber hierher. Was soll ich kochen für einen Menschen? Das ist mir zu blöd! Ich spare Strom, Wasser, Licht.« Erst wollte sie nur »mal
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