Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schamland

Schamland

Titel: Schamland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Selke
Vom Netzwerk:
vom Elvis-Fan noch ein Stück ­Kuchen. Einer der Männer am Tisch geht herum und fragt die anderen Gäste, ob er deren Kuchenstück bekommen könnte. Er kommt mit einer vollen Tüte zurück und freut sich. »Acht Stück«, sagt er. »Jetzt sind es neun«, zähle ich weiter und gebe ihm mein Stück dazu. Es ist Freitag. Viele freuen sich auf das Wochenende, vor dem er Angst hat. Er erzählt mir, dass man ja nie weiß, was es am Montag gibt. »Und das Wochenende ist lang«, fügt er hinzu.
    Nach dem Mittagessen treffe ich die nette und engagierte Leiterin der Tafel. Wir gehen gemeinsam in ein zweckmäßig eingerichtetes Büro und sind schon bald in eine Diskussion verstrickt. Nach gut einer Stunde und ohne abschließendes ­Ergebnis schrecken wir auf, als es an der Bürotür klopft. »Wir polieren hier die Leute auf«, erklärt sie. »Wir kämpfen um jeden unserer Gäste. Viele Menschen trauen sich nicht, kommen aus Scham nicht von alleine.«
    Später sitze ich dann noch am »Männertisch«. Anfangs sind es drei, dann sechs Männer, die sich alle beim Mittagstisch kennengelernt haben. Während sie das Geschnetzelte ­essen, unterhalten wir uns. Alle Männer behaupten, dass sie Singles sind. Sie lachen, als sie dieses moderne Wort aus­sprechen, Single. In ihrem Fall bedeutet es wohl eher ganz alt­modisch: Alleinsein. Am Nebentisch sitzen sechs Frauen. Es sind Sekretärinnen, deren Büros sich ein Stockwerk höher im gleichen Gebäude befinden. Für das Mittagessen zahlen sie ­einen Euro mehr als die Gäste der Tafel. Trotz der räumlichen Nähe zwischen den beiden Tischen ist die soziale Distanz kaum überbrückbar. Die Frauen haben einen Job. Sie sind aufgedreht und nutzen die Pause zum Büro-Smalltalk. Die Männer, mit denen ich zusammen am Tisch sitze, sind hingegen schweigsam. Es sind ehemalige Ingenieure eines Industriekombinats, das nach der Wende »abgewickelt« wurde. Nun sind sie Hartz- IV -Empfänger. In ihrem Leben passiert nicht sehr viel, und das wenige ist schnell berichtet. Alle diese Männer vereint der Wunsch nach Arbeit und ein wenig Anerkennung. Um sich nicht vor den Frauen am Nebentisch schämen zu müssen.
    100 Kilometer weiter östlich findet am nächsten Tag eine Vorstellung in einem Festspielhaus statt. Im Halbdunkel verfolge ich eine Performance, bei der eine Tänzerin an einem virtuellen Klangteppich webt und dabei Töne und Geräusche mit ihrem Körper, ihren Händen und Füßen aktiviert. Im Saal sitzen ein paar Kunststudenten, Nerds und Technikfreaks. Menschen, die experimentelles Tanztheater lieben. Die Frau, die ich dort treffe, führt zwei Leben. In dem einen pflegt sie Kontakte zu avantgardistischen Medienkünstlern und träumt versonnen den Tänzern und Tänzerinnen nach, die sie voller Inbrunst »moderne Schamanen« nennt. Das andere Leben, das sie hasst, verbringt sie in Armut und der Welt der Tafeln.
    Mit ihren vier Kindern und der Katze »Sloterdijk« wohnt sie in einer heruntergekommenen Villa in einem noblen Stadtteil. Der Zustand sowie die Einrichtung der Wohnung lassen an zwei Dingen keinen Zweifel. Sie versteht sich selbst als Künstlerin, und sie hat die Tafel nötig. Jede Woche fährt sie mit dem Auto zur Tafel. Es ist uralt und ein Geschenk ihrer Schwester – aber immer noch billiger, als für sich und die Kinder ständig Tickets für den öffentlichen Nahverkehr zu kaufen. Im Kofferraum stapeln sich Pfandflaschen aus Plastik. »Das ist meine Bank«, kommentiert sie, »wenn ich schnell mal Geld brauche, bringe ich ein paar Flaschen weg«.
    Die Tafel ist ihr Lebensmittellieferant wider Willen. »Sie ermöglicht mir das physische Überleben, aber sie ändert nichts an dem Dschungel der rechtlichen Regelungen, in dem ich mich befinde«, erläutert sie. Freude macht ihr diese Über­lebensstrategie überhaupt nicht. Sie geht genau so oft zur ­Tafel, wie es sein muss. Anderen Tafelnutzern geht sie eher aus dem Weg. Für sie ist die Tafel eine Überlebensstrategie und kein Soziotop. »Ich lebe von Tag zu Tag«, sagt sie, »heute Abend weiß ich nicht, wie es morgen weitergeht.« Vom Leben erwartet sie nicht mehr viel. Ihr Leben, eine Kette von verpassten Chancen, so empfindet sie das. Ein aufgegebenes Leben. »Der Zug ist abgefahren. Ich wüsste nicht, was jetzt noch kommen soll.«
    Die Tafeln versucht sie so gut wie möglich aus ihrer Wahrnehmung auszublenden – auch wenn sie diese braucht. Aber es geht um mehr. Um eine Strategie für eine würdevolle Existenz als Mensch

Weitere Kostenlose Bücher