Schamland
Männern, mit denen ich vorher in einer Selbsthilfeeinrichtung für Arbeitslose gesprochen hatte, gehe ich dort zum Mittagessen. Die Suppenküche befindet sich in einem Eckgebäude, einer ehemaligen Gastwirtschaft. Wir sind schon relativ spät, es ist fast ein Uhr. Üblicherweise beginnt das Essen dort früher. Ich treffe auch einen Gesprächspartner wieder, einen geschiedenen Mann, der oft mit seinem Fahrrad zum Essen in die Suppenküche kommt: »Zur Tafel gehe ich eigentlich nicht, das ist mir zu viel Stress. Zum Essen komme ich schon. Das Essen ist schon fertig. Das ist praktisch. Für 50 Cent. Da lohnt sich der Aufwand nicht, selbst zu kochen.« Er würde zwar lieber in einem normalen Restaurant essen gehen, doch dafür reicht sein Hartz- IV -Regelsatz nicht. »Es gibt hier genug Gaststätten, deutsche Wirtschaft, Stammessen 5,60 Euro! Das wäre mir lieber. Publikum besser! Gespräche besser! Für Gespräche ist die Suppenküche nicht der richtige Ort«, klagt er. Über die Tische hinweg komme ich mit einem Rentner ins Gespräch. Er erzählt mir, dass er sechzig ist. Sagt, dass er zu wenig Geld hat und deswegen noch nebenbei Zeitungen austrägt. Er schließt mit der Aussage, dass er sich eigentlich nur noch darauf freut, in der Kiste zu liegen.
Die meisten hier sitzen in Gruppen zusammen. »Die Leute, die sich einigermaßen verstehen, versuchen an einem Tisch zu sitzen«, erklären mir die Männer. Auch so eine Art Stammtisch, denke ich, doch der erste Eindruck täuscht. Obwohl sich die Besucher der Suppenküche fast täglich sehen, bleiben die Kontakte oberflächlich. »Das sind keine Leute, mit denen ich privat verkehre«, behauptet der Fahrradfahrer. »Ich sehe die halt eine halbe Stunde bei der Suppenküche. Und das ist es dann. Das ist rein praktisch zum Essen. Billig essen, Arbeit gespart, Geld gespart, schnell. Das habe ich so in meinen Tagesablauf eingebaut. Mit dem Fahrrad hin, essen und ab.«
Ich kann das nachvollziehen. Unübersichtlich und eng ist es hier. »Das ist halt die Armutsseite der Gesellschaft«, kommentiert mein Gesprächspartner, »es ist anstrengend. Jeder versucht, was zu ergattern.« Statt der eher reizenden Stimmung in der Rockerkneipe ist die Stimmung gereizt. Wir sind vier oder fünf Personen und werden sogleich zur Eile gedrängt. Alle anderen essen bereits, wir finden nur mit Mühe einen Platz in einem Nebenzimmer. Das Essen müssen wir uns selbst an einer Theke abholen. Unter den Mitarbeitern der Suppenküche sind viele Arbeitslose. »Die sind halt stolz, wenn sie da antanzen dürfen«, kommentiert der Fahrradfahrer. »Gib dem Deutschen ein Amt, und er verlangt Respekt! Die haben dann halt ein wenig Macht bei der Essensausgabe und was zu sagen. Wer lange arbeitslos war, der holt sich bei dieser Arbeit ein bisschen Selbstaufwertung.«
Ich möchte keinen Salat und werde sofort barsch angepflaumt: »Sagen Sie das doch gleich …!« In dieser Suppenküche gibt es reichlich Essen. Ich erhalte eine Suppe, eine Hauptspeise, eine Nachspeise und einen Kuchen – alles auf einmal. Das Kuchenstück ist mir zu groß, ich bitte darum, dass man mir nur die Hälfte gibt. »Alles oder gar nichts«, erwidert der Mann, der austeilt. Ich nehme alles. Und lasse dann die Hälfte stehen. Nicht weil es mir nicht schmeckt, sondern weil ich es einfach nicht schaffe. Ein Fehler. »Es gibt sehr schnell Hausverbot. Für zwei bis drei Wochen. Wenn man falsch antwortet oder sich falsch benimmt. Das geht sehr schnell. Manche Leute packen das Essen nicht. Das kann schon einen Anschiss bedeuten. Gut, wenn es niemand gesehen hat. Aber wehe, wenn die Chefin und ihr Mann da sind. Die sind dann pikiert. Dann gibt es ganz großen Ärger. Mit der ist nicht gut Kirschen essen. Das kann dann Hausverbot bedeuten. Wenn man Essen an jemanden weitergibt, das gibt Ärger.« Ich kann damit gut umgehen. Aber wie machen es diejenigen, die regelmäßig hierherkommen? »Die achten darauf, dass es niemand sieht, wenn sie dem Nachbarn das Essen zustecken. Die müssen total auf der Hut sein, das ist anstrengend! Das ist nicht so wie in einer Kneipe, wo man auch mal einen Teller zurückgehen lassen kann. Aufessen gehört zum Programm!«
Abgespeist
Während ich morgendlich verträumt aus dem Zugfenster schaue, verschwindet der Thüringer Wald langsam im Westen. Hohe Wolken werden von der aufgehenden Sonne angestrahlt. Kurze Zeit später komme ich in einer kleinen Stadt an, die ich wahrscheinlich niemals
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