Schamland
kennengelernt hätte, gäbe es dort keine Tafel.
Als ich im Zug telefoniere und dabei den Namen der Tafel erwähne, die ich besuchen möchte, spricht mich spontan ein hinter mir sitzender Mann an. Wie sich herausstellt, war er dort einmal Koch. »Ist das Armenspeisung?«, frage ich ihn. »Nein«, antwortet er. »Obwohl«, er überlegt eine Weile und blickt dabei aus dem Zugfenster. Er grübelt, schon denke ich, dass er die Frage vergessen hat. Plötzlich blickt er mich direkt an. »Es ist nicht gut so«, bricht es aus ihm hervor. »Hier geht eine Welt unter, und keiner merkt es! Die vielen Menschen dort, wohin gehören die eigentlich noch? Doch nicht mehr zur normalen Gesellschaft, oder?« Die Frage verhallt, als der Zug abbremst. Wir sind da.
Auf dem Marktplatz stehen ein paar verlassene Buden, die versuchen, einen Weihnachtsmarkt darzustellen. An der Glastüre des unvermeidlichen Eiscafés »Venezia« steht auf einem Pappschild »Ab Oktober Winterpause«. Ich laufe noch ein wenig herum, bevor ich mich zur Tafel aufmache. Das Stadttheater wirbt, verzweifelt wie mir scheint, mit einem großen Transparent »Werden Sie Flatrater – Die Flatrate zur Finanzkrise. 88,88 Euro für ca. 200 Vorstellungen im Jahr = 44 Cent pro Vorstellung. Lassen Sie sich keine Vorstellung entgehen!« Überall in der Stadt werden Büroräume, Praxen und Wohnungen zum Kauf oder zur Miete angepriesen. Viele Erdgeschosse sind mit vollgeschmierten Holzplatten vernagelt. In Fenstern lese ich immer wieder die Worte »ab sofort«, »von privat« und »provisionsfrei«.
Die Tafel mit Mittagstisch befindet sich im ersten Stockwerk eines alten Fabrikgebäudes. Ich trete in einen Aufenthaltsraum. Darin steht ein großer Weihnachtsbaum, an den Wänden hängen Lichterketten. Verteilt im Raum stehen dunkle Tische mit je vier oder sechs dunklen Stühlen. An den Wänden Kommoden, ein paar Bilder, Dekoration. Der Raum wirkt wie ein zu groß geratenes Wohnzimmer. An Tischen sitzen, einzeln oder in kleinen Gruppen, Menschen und warten. Ein Pärchen spielt Bauernskat.
Es ist 10 Uhr vormittags.
Ich bin zu früh. Also beginne ich, mich ein wenig umzuschauen. Links von mir sitzt eine Frau alleine an einem Tisch. Sie wartet regungslos. Daneben sitzt ein Mann, auch er alleine. Nur in einer Ecke des Raums wird gelacht. Obwohl man sich erkennbare Mühe gegeben hat, den Raum weihnachtlich zu schmücken, kann von Weihnachtsstimmung keine Rede sein. Irgendwie werde ich das Gefühl nicht los, von Einsamkeit und Sorgen umgeben zu sein. Ab und zu klingelt ein Mobiltelefon. Dann setzt sich das stumme Warten fort.
Es ist 10:30 Uhr.
Nach einiger Zeit kommt ein Mann aus der Küche. Er trägt ein weißes T-Shirt mit einem Porträt von Elvis. In der einen Hand hält er eine Tasse, darauf wieder Elvis. Er schreibt mit Kreide ein paar Worte, blass und kaum lesbar, auf eine Tafel in der Ecke des Raumes und geht dann wieder. Der Menüplan. Einer nach dem anderen stehen die Anwesenden auf, gehen zur Tafel, lesen sich das Angebot durch und tauschen kurz Kommentare aus. »Geschnetzeltes, Kartoffeln, Beilage.«
Es ist 10:45 Uhr.
Ich habe noch keinen Hunger. Zu früh. Aber ich werde den Eindruck nicht los, dass dieses Mittagessen ein Fixpunkt im Tagesablauf der anwesenden Menschen ist, ein Anker. Um 11 Uhr wird es Essen geben. So steht es auf dem Menüplan. Die allein sitzende Frau, der allein sitzende Mann, alle warten sie weiter. Das Pärchen spielt weiter Skat. Drei Männer kommen auf mich zu. So, wie sie mich ansehen, wird auch ohne Worte sehr schnell klar, dass ich an »ihrem« Tisch sitze. Ich frage höflich, ob ich bleiben darf. Kein Problem, da heute der vierte Mann der Gruppe fehlt. Sie holen sich je eine Tasse Früchtetee. Zuerst denke ich, es sei Kaffee. Die Männer rühren lustlos im Tee, nippen an den Tassen und lassen diese dann fast unberührt stehen. Das Rollo zur Ausgabetheke der Küche öffnet sich. Elvis ruft zum Mittagstisch.
Es ist Punkt 11 Uhr.
Ein Mann, der mir gegenübersaß, springt auf und presst dabei »Dann mal los!« heraus. Er ist der Erste an der Theke. Die anderen folgen eher verhalten. Ich beschließe, zusammen mit ihnen zu essen, und mache mich mit ihnen auf den Weg zur Essensausgabe. Alles auf meinem Teller schwimmt in Soße, das Fleisch, ein paar kleine Kartoffeln und selbst der Salat am Rand. »Es schmeckt lecker«, betonen die Männer. So oft, dass ich mich frage, ob sie nicht vielleicht das Gegenteil meinen. An der Theke erhalte ich
Weitere Kostenlose Bücher