Schamland
müssen sie alle leben. Frau M. würde gerne ausgehen und unter Leute kommen. »Alleine durch die Straßen zu gehen ist doof. Und sich irgendwo reinzusetzen, dafür reicht das Geld nicht aus. Wenn ich sehe, dass ich für eine Tasse Kaffee mehr bezahlen soll als für ein ganzes Pfund im Laden, dann geht das einfach nicht.« Glücklich ist, wer Verwandte hat, wie Frau M. »Vor einigen Jahren, da war mein Fernseher kaputt. Da haben meine Kinder zusammengelegt und mir zum Geburtstag einen neuen geschenkt. Aber mittlerweile traue ich mich gar nicht mehr zu sagen, dass etwas nicht funktioniert. Die haben ja selbst nicht so viel Geld.« Und so wird das Leben immer bescheidener. »Ich leiste mir so gut wie nix. Essen gehen? Seit Jahren nicht mehr. Urlaub? Das letzte Mal vor Jahren.«
Mit eingeschränkten Konsummöglichkeiten können die Frauen noch einigermaßen umgehen. Was sie aber wirklich schmerzt, ist die Tatsache, dass sie kaum Möglichkeiten haben, Kindern und Enkelkindern etwas zu schenken. Frau M. berichtet, dass ihr Sohn bald heiraten möchte. Dann hält sie inne und überlegt. »Dann muss ich noch sehen, wie ich ein Geschenk zusammenbekomme. Die wollen immer nicht, aber man muss ja doch. Das muss ich mir dann eben auch alles absparen.« Frau H. weint, als sie über ihr Enkelkind spricht. »Das ist so beschämend, dass man kein Geld hat. Man kann nichts schenken. Man hat Enkelkinder und man kann nichts kaufen. Und ich gebe so gerne!« Hier zeigt sich ein Generationenphänomen. Wer den Mangel noch selbst erlebt hat und danach die Wirtschaftswunderjahre, der kann nicht aus seiner Haut. Frau H. berichtet über typische Konflikte mit ihrer Tochter. »Ich sage immer zu meiner Tochter, du kannst mit mir schimpfen, aber das eine musst du mir lassen, dass ihr was von mir kriegt. Wenn ich nichts mitbringen darf, dann bleibe ich weg. Das geht nicht, dass ich ohne kommen soll.«
In einer Arbeiterwohnsiedlung treffe ich Frau L. (72), eine Witwe, die in einem winzigen Haus lebt. Draußen regnet es, drinnen ist es dunkel. Ein einfacher Ofen steht in der Ecke, davor Briketts. Aber der Ofen bleibt kalt. Die Möbel stammen noch aus den Wirtschaftswunderjahren. Frau L. erzählt, welchen Zusammenhang es zwischen diesen Möbeln und ihrer Altersarmut gibt. Das Leben ihrer Eltern war typisch für die Nachkriegszeit. Ein Leben in kleinbürgerlicher Aufbauarbeit. »Meine Eltern wollten gerne ein eigenes Häuschen, obwohl mein Vater ungelernt war. Immer wenn sie ein wenig Geld zusammen hatten, haben sie gebaut. Ein Zimmer nach dem anderen.« Nach ihrer Lehre heiratete Frau L. Und tat, was damals viele taten. »Ich habe mir meine Rente auszahlen lassen. Das war damals so modern. Damals hat man sich dann lieber schöne Möbel gekauft, in den 60er Jahren. Dann habe ich die Kinder großgezogen. Da konnte ich sowieso nicht arbeiten. Mein Mann ist schon mit 53 Jahren gestorben. Dann kam der große Hammer. Ich musste zum Amt gehen. Die Rente war ja weg. Deshalb bekomme ich jetzt nur Grundsicherung.« Und dann erzählt sie, wie die Tafeln in ihr Leben kamen. »Ich bekam ein Schreiben vom Amt. Darin stand, dass ich berechtigt bin, zur Tafel zu gehen. Das war, noch bevor die Tafel in unserem Ort eröffnete.«
Fast alle meine Gesprächspartnerinnen nutzen die Tafeln. Dabei sind Tafeln gerade für diese Generation das Symbol eines sozialen Abstiegs, den man sich im Traum nicht hätte vorstellen können. Frau M. macht deutlich, wie sich das für sie anfühlt. »Man kommt sich vor wie jemand, der unter der Brücke lebt.« Frau B. hat manchmal sogar zu wenig Geld für die Tafel. »Dann muss ich den einen Tafel-Euro anschreiben lassen. Was soll ich machen? Ich habe kein Geld. Ich bin jetzt schon drei Euro im Rückstand«, rechtfertigt sie sich. »Ich habe es immer schon als sehr schlimm empfunden, als entwürdigend. In einer Reihe, das ist schon sehr entwürdigend. Menschenentwürdigend.« Noch drastischer wird es, wenn das Angebot bei den Tafeln knapp ist: »Ich musste schon mal zu den Leuten in meinem Wohnhaus gehen und um Essen betteln, weil ich nichts mehr hatte. Ich nehme ja mehr ab als zu. Mein Arzt sagt, ich soll zunehmen. Früher habe ich 78 Kilo gewogen, heute noch 62. Mein Arzt sagt, das ist zu wenig.«
Nach und nach hinterlässt so ein Leben Spuren im eigenen Selbstbild, wie Frau L. verdeutlicht. »Man fühlt sich irgendwie zurückhaltender, nicht so offen, wenn man arm ist und sich nicht alles kaufen kann.« Die Tafeln sind
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