Schamland
aber nur ein kleiner Baustein in der beschämenden Existenz dieser älteren Frauen. Viel zentraler ist das Gefühl eines unsichtbaren Makels. Frau P. beschreibt sehr präzise, wie sich das anfühlt: »Wenn ich im Rollstuhl säße oder einen Arm gebrochen hätte – jeder hätte Mitleid. Das sind Merkmale, die jeder sieht. Dann sind die Menschen verständnisvoll. Das Problem fängt dort an, wo man kein sichtbares Problem hat und sich ständig erklären muss.« Aus dieser Situation entsteht Verzweiflung. »Ich bekomme hin und wieder diese Panik, diese Angst, wirklich ganz unten anzukommen.« Dieses ›ganz unten‹ hat zunächst mit Geld zu tun. »Es fängt an, wenn ich meine Miete nicht mehr zahlen kann. Wenn mein Bankkonto auffliegt, da fängt bei mir die Panik an.« Wenn diese Panik aufkommt, dann kippt alles. Das Kippen von Hoffnung in Frust ist das eigentlich beklemmende Grundgefühl der Altersarmut.
Also suchen alle nach Strategien, Sein und Schein besser zur Passung zu bringen. Frau H. geht nicht mehr zu Tafeln. »Ich gehe in den Discounter und suche die Produkte mit den roten Punkten. Wenn rote Punkte drauf sind, dann muss das schnell weg. Das kann man immer noch essen. Dann rieche ich daran, so wie ich es im Fernsehen gesehen habe.« Auch Frau R., die gerne wandert, muss klare Grenzen ziehen. »Wenn ich mit meiner Wandergruppe unterwegs bin, da gibt es auch mal Tage, da gehen die mittags essen in der Gastwirtschaft. Dann fahre ich nach Hause, weil ich mir das nicht leisten kann. Das sind 15 Euro für so ein Essen und Trinken. Das gibt mein Budget nicht her!« Wie mühsam es sein kann, im Alltag etwas einzusparen, macht Frau M. deutlich. »Ich esse keine ganzen Brötchen. Ich schneide mir die dann hochkant durch und esse zwei Scheiben davon. Dadurch reicht ein Brötchen immer über die Zeit. Es wird eben gestreckt. Und wenn ich mal günstig Bratwürste bei Aldi bekomme, dann teile ich mir die auch ein. Da habe ich mehrere Tage was davon. Und so komme ich durch.«
Die Frauen schaffen es alle, mit ihrer Situation zurechtzukommen. Das liegt jedoch nicht daran, dass diese erträglich ist, sondern nur daran, dass sie gelernt haben, sie zu ertragen. Denn trotz der Scham schweigen sie die eigene Armut einfach weg. Frau M. ist dafür ein gutes Beispiel. »Ich habe immer sehr viel Kummer gehabt in meinem Leben«, sagt sie, »aber ich trage es nicht nach außen.« Und auch Frau R. wahrt das Gesicht. »Also ich bin nicht der Typ, der jemandem ungefragt seine Lebensgeschichte erzählt.« Nur eines erzählt sie noch, einen Wunsch möchte sie loswerden. »Ich würde gerne wieder Auto fahren. Ich musste mein Auto abgeben. So einfach mal von A nach B fahren, das wäre schön. Sich einfach reinsetzen, losfahren. Und dann an der Kreuzung entscheiden, fahre ich geradeaus, links oder rechts.«
Im Paradies
Das Paradies wird renoviert. Glück also, dass ich noch einmal kurz vorbeischauen darf. Nicht weit vom Bahnhof, in einer kleinen Nebenstraße, entdecke ich tatsächlich das ehemalige Wirtshausschild mit der Aufschrift ›Im Paradies‹. Darunter der Zusatz ›Wärmestube‹.
Das Paradies (wie es hier alle kurz nennen) befindet sich in den Räumen einer ehemals gutbürgerlichen Gastwirtschaft. Zuletzt war es eher eine Bierstube, wie mir die Leiterin, eine dynamische Sozialarbeiterin, zwischen allerlei Kisten und Kartons in ihrem Büro erzählt. »Wohlmeinende Spenden«, erklärt sie mit Blick auf die herumstehenden Stapel, »die stellen die Leute einfach vor die Tür.« Wir kommen schnell zum Punkt. »Die Menschen, die zu uns kommen, werden immer älter«, so fasst sie ihre Beobachtungen zusammen, »für die sind wir der letzte Halt, die letzte Station.« Deshalb bin ich hier.
Das Paradies ist ein niedrigschwelliges Begegnungs- und Beratungsangebot. Nicht nur ein Ort, eher ein Konzept. Denn der Gesetzgeber sieht vor, dass Menschen, »bei denen besondere Lebensverhältnisse mit sozialen Schwierigkeiten verbunden sind«, einen Hilfeanspruch haben. 7 Können sie aus eigener Kraft Schwierigkeiten nicht überwinden, so ist ihnen neben der Grundversorgung – Essen, Hygiene – auch Fachberatung anzubieten. Wohnungslose Menschen, Menschen in materiellen und psychosozialen Notlagen fallen in dieses Raster. »In vielen Fällen überschneiden sich die … Problematiken und bedingen sich gegenseitig«, erläutert eine Broschüre der Dachorganisation, die das Paradies finanziert. Und in vielen Fällen ist die Altersarmut quer zu
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