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Schamland

Schamland

Titel: Schamland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Selke
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gucken«, jetzt ist sie seit fünf Jahren Stammgast. So geht es vielen. Ihre Witwenrente ist verhältnismäßig hoch. Und damit geht es ihr besser als den meisten. Ab und zu lädt sie daher Herrn L. zum Essen ein. Und dann schaut sie zu dem großen Sparschwein auf dem Tresen und brüllt mich an: »Ab und zu tue ich fünf Euro da rein, in die Sau! Andere hauen gar nichts rein! Aber so sollte es sein, nicht bloß nehmen, auch mal geben!«
    Herr L., mein zweiter Tischnachbar, war lange angestellt, hat in seinem Beruf aber nie viel verdient. Er lebt alleine, weil er »nie gewagt hat zu heiraten, wegen meines kleinen Gehalts«. Von seiner geringen Rente gehen fast zwei Drittel für eine Wohnung ab. Sein Besuch im Paradies hat daher vor allem finanzielle Gründe. Oft fehlen ihm sogar die 1,50 Euro für das Essen. »Man kann anschreiben«, behauptet er, »aber man macht das nicht.«
    Einen der Gäste aus der städtischen Obdachlosenunterkunft treffe ich am nächsten Tag. Die Unterkunft ist vergittert, keine Klingel an der Tür. Im zweiten Stock lehnt eine Frau aus dem Fenster. Ich rufe seinen Namen hinauf, der sogleich nach innen weitergebrüllt wird. Ich warte. Einige Zeit später öffnet sich die vergitterte Tür zur Straße. Wir suchen einen Ort, um ungestört einen Kaffee zu trinken. Schließlich landen wir bei einem Discountbäcker, der auch Kaffee in Bechern verkauft. Über das Paradies erzählt er wenig. Mit den Leuten dort will er nichts zu tun haben. Er sucht gerade eine Wohnung, will raus aus diesem Leben. Die Chancen stehen gar nicht so schlecht. Gerade hat er einen Aushilfsjob gefunden. Vor allem eines ­ärgert ihn am Paradies. Er spürt, dass es auch dort zweierlei Arten von Menschen gibt. Die einen gehen ins Paradies, um billig zu essen, die anderen rühren genau dieses Essen nicht an. Zum Abschied schaut er mir tief in die Augen und raunt mir etwas zu. »Es muss doch einen Grund dafür geben, dass ich dort noch nie jemanden aus der Küche oder hinterm Tresen gesehen habe, der das isst, was wir aufgetischt bekommen.«
    Nach drei Wochen komme ich wieder. Die Renovierung wurde gerade abgeschlossen. Der Geruch der neuen Wandfarbe hängt noch in der Luft. »Wenn die hässlichen Wände übermalt sind, dann sind wir schon zufrieden«, freut sich ein Gast. Aber irgendwann schließt dann auch das Paradies und entlässt alle Gäste in eine Welt, die noch genug an Hässlichkeit zu bieten hat. Der Damenklub vom Proletariertisch geht dorthin, wo es noch billigen Kuchen gibt. Herr L. träumt davon, zu seinem anstehenden 80. Geburtstag etwas anderes trinken zu können als Leitungswasser. Und die 90-jährige Frau O. läuft, trotz ihrer Sehbehinderung, ein wenig durch die Gegend. »Irgendwas braucht man ja immer.«

III
Der Chor der Tafelnutzer
    Vorbemerkung
    Da dem ›Chor der Tafelnutzer‹ keine der üblichen sozialwissenschaftlichen Interpretationsmethoden zugrunde liegt, schildere ich einleitend kurz, wie meine Arbeitsweise entstand. Nachdem ich zwischen 2009 und 2012 in fast allen Landesteilen herumgereist war und auf diese Weise mit insgesamt rund 100 Tafelnutzern gesprochen hatte, entstand der Wunsch, denen eine Stimme zu geben, die sonst meist duldsam schweigen. Die Gespräche wollte ich nicht nur als Ornament für fachwissenschaftliche Analysen verwenden, sondern in ihrem Eigenwert darstellen. In anderen Worten: Ich wollte den von mir gehobenen Schatz biographischer Berichte in eine angemessene Form bringen. Ich wusste nur nicht wie.
    Zunächst sah ich, gefangen in disziplinärem Denken und methodischen Fesseln, keine Lösung für diese Aufgabe. Ich fühlte mich hin- und hergerissen zwischen der Suche nach ­einem kraftvollen Stilmittel und dem Wunsch nach akade­mischer Anschlussfähigkeit. Aber mein übergreifendes Ziel war es, interessierte Lesende aller Schichten und Milieus zu erreichen, nicht nur Eingeweihte und Fachkollegen.
    Mir blieb nichts anderes übrig, als immer weiter herumzuprobieren. Ständig las ich meiner Frau die Ergebnisse meiner Experimente vor (bekommt diese eine Gänsehaut, weiß ich, dass ich auf der richtigen Spur bin). In diesem Prozess wurde ich mutiger und hatte irgendwann den entscheidenden Einfall. Ich probierte das Stilmittel des vielstimmigen Chors aus. Von den vielen isolierten ›Ichs‹, die ich persönlich getroffen hatte, ging ich ohne Umwege zum verbindenden ›Wir‹ über – zumindest dort, wo ich mir aufgrund meiner Recherchen der Verallgemeinerungsfähigkeit individueller

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