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Schamland

Schamland

Titel: Schamland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Selke
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Aussagen sicher war. Die Gänsehaut meiner Frau war beeindruckend. Ohne eine weitere disziplinäre Legitimation entschied ich mich für diese Arbeitsweise.
    Der dadurch entstandene Chor ist eine Gemeinschaft von Gleichbetroffenen, auch wenn diese Menschen sich unter­einander kaum je kennenlernen werden. Das Stück, das vom Chor der Tafelnutzer aufgeführt wird, nennt sich ›Leben im Schamland‹. Ich vertraue darauf, dass es die Kraft hat, die ­üblicherweise kaum zu vernehmende Klage in eine hörbare Anklage zu verwandeln.
    Dabei ließ ich mich verführen vom hundertfachen Klang der Worte, die ich gehört hatte und die in mir nachschwangen. Meiner Kritik an der Ökonomisierung des Menschlichen wollte ich durch den Chor zu einer Klarheit verhelfen, die auf Vielstimmigkeit beruht. Die Überlagerung und gegenseitige Verstärkung der Stimmen sollten jeden Zweifel daran aus­räumen, dass es sich bei den geschilderten Erlebnissen nicht nur um »ein paar bedauernswerte Einzelfälle« handelt, wie mir Politiker oder offizielle Vertreter von Wohltätigkeitsorganisationen oft beschwichtigend entgegenhalten. Ich wollte ein gesellschaftliches Problem verdeutlichen und zugleich einen Skandal sichtbar machen. Und dabei die elementaren Mechanismen des Lebens mit Armut jenseits aller Theorien frei­legen.
    Ein derartig gewagtes Unterfangen braucht Vorbilder. Ich kann an dieser Stelle nicht auf alle eingehen. Parallel zu meinem eigenen Arbeitsprozess entdeckte ich jedoch das mehrbändige Werk Echolot von Walter Kempowski. Der Autor montierte Briefe und andere biographische Dokumente zu einer umfangreichen Zeitzeugen-Collage der Jahre 1941–45. Sein Projekt sah er als den »zweiten Rumpf des Katamarans« an, 1 eine vielstimmige Erzählung, die parallel zur offiziellen Geschichtsschreibung verläuft und diese ergänzt. Damit konnte ich etwas anfangen: Die Form des Chors stellte ich mir als ein bewusstes Gegengewicht zu meinen eigenen Analysen vor. Wenn meine empirischen Studien über Tafeln den einen Rumpf des Katamarans darstellen, dann ist der Chor nun der andere.
    Dieser Chor schildert die sich immer wieder gleichenden Erlebnisse vieler Menschen in der Armut und spezieller: bei und mit den Tafeln. Einzelerfahrungen werden überlagert, verstärkt und kontrastiert. Jede Textstelle, die sich direkt von einem Zitat ableitet, ist mit einem * gekennzeichnet. Insgesamt sind im Chor über 500 direkte Zitate verarbeitet, die (bis auf stilistische Änderungen und Anpassungen des Satzbaus) so unverändert wie möglich im ›O-Ton‹ übernommen wurden. Es galt, das subjektive Erleben der Armutsbetroffenen zu einem großen Ganzen zu montieren. ­Dafür braucht es keine spezialisierten Tiefenanalysen, sondern vor allem einen Überblick. Oder, um es in einem wunderschönen Bild von Kempowski zu umreißen: »Wind ist nur am Kornfeld darzustellen, nicht am einzelnen Halm.« 2

Leben im Schamland
    Wir leben im Schamland. Dieses Land existiert bereits seit 20 Jahren. In dieser Zeit haben wir Erfahrungen gemacht, die denen, die Tafeln als Erfolgsmodell feiern, fremd sind. Wir werden nun sprechen, alle zusammen. Mit einer Stimme, die wir lange gesucht haben. Wir, das sind alle Menschen, die bei einer der vielen Lebensmittelausgaben, Tafeln oder Suppenküchen anzutreffen sind. Wir sind die, die seit Jahren Almosen in Empfang nehmen. Wir sind die Stimme und das schlechte Gewissen der neuen sozialen Frage in Deutschland. Wir sind viele.
    Auch wir leben mitten in diesem Wohlstandsland. Aber vom Wohlstand haben wir nur etwas als Empfänger von Almosen. Deswegen ist Scham der Preis für unsere Existenz. Im Schamland machen wir alle, jeder für sich, ähnliche Erfahrungen. Still und verschwiegen, dankbar und demütig zugleich.
    So wie man es von uns erwartet.
    Damit ist jetzt Schluss. Hier und jetzt erzählen wir von unseren Erlebnissen. Dieser Chor ist die Klammer um Erfah­renes und Erlittenes – ein mühsam zusammengesetztes ­Mosaik. Viele werden sich darin wiedererkennen, auch wenn sie nicht offen darüber sprechen. Alle anderen können darin das Bild eines dramatischen Wandels sehen, auch wenn dieses Bild nicht dem politisch erwünschten entspricht. Unser Ziel ist es, dieses schiefe Bild geradezurücken. Gerade wir sind in der Lage, von der Abwärtsspirale der Menschlichkeit zu berichten, denn wir sind deren Kronzeugen. Um diese Rolle ­haben wir uns nicht bemüht, aber nun machen wir das Beste daraus. Das Beste ist, darüber zu sprechen, damit

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