Schamland
wir endlich gehört werden.
Denn wir haben ein Recht auf unsere Sicht der Dinge. *
Magische Grenze
Niemand ist als Tafelnutzer auf die Welt gekommen. Noch nicht. Es gab immer ein Leben vor der Tafel. Eine Vorgeschichte. Eine Leidensgeschichte. Es sind sehr unterschiedliche Dramen und dennoch haben sie alle einiges gemeinsam. Viele von uns leben von der Hand in den Mund. * Wir führen ein Leben in dauernder Unsicherheit. In diesem Leben geht es hin und her. *
Es ist ein stressiges Leben an der magischen Grenze. *
Für fast alle von uns gab es eine Zeit, an die wir uns noch sehr gut erinnern können. Eine Zeit ohne Tafeln. Früher lebten die meisten von uns wie alle anderen auch. Verdienten ganz normal ihr Geld. In allen Branchen, auf allen Ebenen. Wir kannten es nicht anders. * Früher ging es uns besser, vor allem finanziell. Geld war der Kitt unserer Normalität. * Damit konnten wir leben.
Wir waren einen gewissen Lebensstil gewohnt. Den kann man nicht wie einen Lichtschalter ausknipsen. * Aber Geld, das kann einfach ausgehen. * Früher waren auch wir die normalen Kunden im Supermarkt. Einige von uns kauften sogar im Reformhaus ein, bevor sie zur Tafel mussten. *
Diese gute Zeit hörte für uns einfach irgendwann auf. Tausend Gründe gibt es dafür. Tausend Gründe, warum wir eines Tages, jeder für sich, Tafelnutzer wurden. Früher waren wir gesund und konnten arbeiten. Nun fragen wir uns: Mein Gott, was ist bloß passiert? *
Es ist erschütternd, was alles passieren kann. Niemand von uns hat sich das gewünscht. Aber es passiert.
Ungefragt.
Leben ist nicht das, was man erwartet, sondern das, was passiert. Und das kann alles Mögliche sein (in alphabetischer Reihenfolge): * Allergien, Angstattacken, Arthrose, ausstehende Unterhaltszahlungen, BAföG -Ende, befristete Stellen, Behinderungen, Betrugsdelikte, Brancheneinbruch, chronische Krankheiten, Dauerstress, Depression, Drillinge, Dialyse, Drogen, Energiekostennachzahlungen, Entlassungswelle, Entziehungskur, Epilepsie, Existenzängste, falscher Partner, Frührente, Gefängnisstrafe, geplatzter Traum von Familie, Grundsicherung, Hartz IV , Herzinfarkt, Herzkrankheit, Immunsystemschwäche, Jobsuche (erfolglos), Karriereknick, Kontrollverlust, Krankheit, Langzeitarbeitslosigkeit, Leistungsschwäche, Medikamentenkosten, Mobbing, Mutter (alleinerziehend), Obdachlosigkeit, Panikattacken, prekäre Beschäftigung, Prothesenträger, Qualifikationsdefizit, Rückkehrer aus dem Ausland (mit Heimweh, aber ohne Kontakte), Schulden, Schwerbehinderung, Spielsucht, Trennung, Überlebenskünstler, Überqualifikation, Überziehungszinsen, Umzug, Unterqualifikation, Vertragskündigung, Virusinfektion, Witwe, Working Poor, Zahlungsunfähigkeit, Zahlungsverweigerung von Kunden, Zeitarbeiter, Zufall.
Weil uns etwas aus dieser Liste passierte, lebten wir eine Zeitlang an der magischen Grenze. Aber eines Tages überschritten wir sie und rutschten in ein anderes Leben, auf das kaum jemand von uns vorbereitet war. Wer diese Grenze überschreitet, beginnt sich darüber Sorgen zu machen, wie er durchkommt, wie er die Kinder satt bekommt. * Dazu gibt es tausendundeine Geschichte: Ein Gastwirt kommt nach einer Gehirnblutung ins Krankenhaus. Als er nach einem halben Jahr entlassen wird, steht er vor dem Nichts. Schuldenberg. Privatinsolvenz. Wirtschaft verpachtet: Tafel. * Eine Dame führt ein gutes Leben, bis ihr Mann stirbt, der als Selbständiger nie in die Rentenversicherung eingezahlt hatte. Grundsicherung. Haus, Auto, alles muss verkauft werden: Tafel. * Die Welt eines Unternehmers fängt an zu wackeln, weil die Kunden ihre Rechnungen nicht bezahlen. Zunächst ist da noch Hoffnung. Aber das Geld kommt nicht rein: Tafel. * Nach der Trennung dreht der Ex-Mann ihr den Geldhahn zu. Kein Zeitungsabo mehr, kein Fernseher, kein Computer. Ebbe im Geldbeutel: Tafel. * Eine unheilbare Krankheit wird beim Partner diagnostiziert. Das Leben kann nicht normal weitergehen. Arbeit wird unmöglich: Tafel. *
Wir vermeiden so lange wie möglich, an die magische Grenze zu kommen. Aber irgendwann ist der Punkt erreicht. Wir können ja nicht ständig Freunde anpumpen. * Wenn dann der letzte Mensch, der einen noch unterstützen kann, die Freundschaft kündigt oder stirbt, wird es eng. *
Die Schicksalsschläge treffen uns hart. Aber noch härter trifft es uns, dass wir keine Arbeit mehr finden. Das Schicksal ist zumindest gerecht in seiner Härte. Da gibt es keine Systematik.
Weitere Kostenlose Bücher