Schamland
die uns alle erfasst. Am Ende dieser Abwärtsspirale steht der wertlose Mensch. Wertlos fühlen sich, früher oder später, viele von uns. Das ist kein gutes Gefühl. Es ist das Gefühl, vom Leben und der Gesellschaft abgespeist zu werden. Es ist das Grundgefühl im Schamland.
Die Welt, in der wir leben, macht sich für uns, nach und nach, als Widerstand bemerkbar. Zunächst gehen wir noch wie immer einkaufen, schränken uns aber ein. Im Supermarkt schleichen wir an der Theke mit der verbilligten Ware vorbei. Irgendwann kaufen wir dann nur noch preisreduziert, weil wir uns Produkte zu normalen Preisen nicht mehr leisten können. * Selbst wenn wir mit Geld umgehen können, passt es nach einer gewissen Zeit vorne und hinten nicht mehr. * Wer Hartz IV bekommt, muss lernen, sich einzuschränken, denn das Budget reicht oft nur bis zur dritten Monatswoche. * Überhaupt dieses Hartz IV . Als das losging mit Hartz IV , da haben wir uns gefühlt wie der letzte Dreck. So, als ob wir in der falschen Haut stecken würden. * Wer von Hartz IV leben muss, muss sich wirklich alles verkneifen. Der lebt nicht, der überlebt einfach nur. * Mit Hartz IV wissen wir nicht mehr, wie es um die Ecke geht. *
Wir spüren die Abhängigkeiten. Wir merken immer intensiver, dass unser Leben in den Händen anderer liegt. Diese Hände behandeln uns nicht immer gut. Auf dem Amt müssen wir uns ins Gesicht sagen lassen: ›Aus der Sozialhilfe kommen Sie sowieso nicht mehr raus!‹ * Wir werden erniedrigt und abgekanzelt. * Bekommen Angst vor Kürzungen und denken gleichzeitig: ›Leckt mich am Arsch!‹ * Auch das gehört zur Abwärtsspirale. Unser Leben wird immer aggressiver, und wir beginnen damit, unseren Alltag auf minimalen Energieverbrauch auszulegen. Wir machen uns etwas zu essen, wir gehen schlafen – das ist alles. *
Wir versuchen, unser Geld zusammenzuhalten. Wir leisten uns so gut wie nichts mehr. Vor fünf Jahren das letzte Mal im Kino. * Vor zehn Jahren das letzte Mal im Urlaub. * Kultur bleibt völlig ausgeklammert. * Selbst das Sparschwein magert ab. Die Münzen, die wir in die Sparbüchse legen, holen wir vor Monatsende wieder heraus. * Das Geld reicht für nichts mehr. Natürlich gibt es viele, die uns vorrechnen, dass es reichen müsste.
Aber dafür können wir uns nichts kaufen.
Viele Dinge, die uns wichtig sind, können wir uns nicht mehr leisten. Hobbys schlafen ein. * Denn alles, was wir gerne machen würden, kostet Geld. * Und dann geht es ganz schnell. * Medikamente, die eigentlich für eine tägliche Einnahme gedacht sind, werden nur jeden zweiten, dritten oder vierten Tag eingenommen. * Wir beginnen, Bücher, die wir zu Hause haben, erneut zu lesen. Weil wir mehr Zeit als Geld haben. * Wir leben im Augenblick, sehnen uns nach der besseren Vergangenheit und vermeiden es, an die ungewisse Zukunft zu denken. *
Solche Erfahrungen verändern uns und verursachen quälende Fragen. Ständig fragen wir uns, wer wir jetzt sind. Was aus uns geworden ist. Die Antwort: Wir sind die, die gerade überhaupt kein Geld mehr haben. * Wir sind die, die immer alles gemacht haben, so wie es die Gesellschaft wollte: Kinder, Familie, Arbeit. Die aber jetzt nichts mehr zu essen und zu trinken haben. * Ob man es glaubt oder nicht: Unter uns gibt es viele, die Hunger haben, richtig Hunger. * Und Stress, durch den alltäglichen Existenzkampf. Im Grunde genommen haben wir keinen Zufluchtsort mehr, keinen Moment, in dem wir entspannen können. *
Es ist nicht einfach, dies nicht als Strafe zu empfinden.
Um die Abwärtsspirale zu stoppen, suchen wir nach einer Strategie. Alle Strategien laufen darauf hinaus, Geld zu sparen. Und alle Strategien beinhalten den Rückzug aus der Gesellschaft. Wir sind froh, wenn wir Ausreden haben, um uns nicht mit anderen treffen zu müssen. * Treffen kosten Geld. Eine Mutter ist dankbar dafür, dass eines ihrer Kinder krank ist. Sie hat dann eine Ausrede, um einer Einladung nicht folgen zu müssen. Ihre Strategie geht auf, aber sie schämt sich dafür. * Zur Not erfinden wir einfach Ausreden. * Unsere Sozialkontakte nehmen ab, weil immer weniger von den Menschen, die wir für Freunde hielten, mit uns zu tun haben wollen. In dem Moment, in dem wir die magische Grenze überschritten haben, passen wir nicht mehr in die Welt der anderen. Viele von uns sind einsam und denken: Wenn ich mal sterbe, dann merken die es erst, wenn ich anfange zu stinken. *
Zunächst sagen wir uns, dass es doch noch andere
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