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Schande

Schande

Titel: Schande Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J. M. Coetzee
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zum anderen nicht mehr so wie früher. Das Haus wirkt fremd, geschändet; sie sind ständig auf der Hut, lauschen auf Geräusche.
      Dann taucht Petrus wieder auf. Ein alter Laster kämpft sich stöhnend den ausgefahrenen Weg hoch und hält beim Stall. Petrus klettert aus dem Führerhaus, er steckt in einem Anzug, der zu eng für ihn ist, ihm folgen seine Frau und der Fahrer. Von der Ladefläche holen die beiden Männer Kartons, imprägnierte Holzpfähle, verzinkte Bleche, eine Rolle Plastikrohr und schließlich, mit viel Spektakel, zwei halbwüchsige Schafe, die Petrus an einen Zaunpfahl bindet. Der Laster macht einen weiten Bogen um den Stall und donnert den Weg wieder hinunter.
      Petrus verschwindet mit seiner Frau im Gebäude. Eine Rauchfahne steigt langsam aus dem Asbestrohr, das als Schornstein dient.
      Er beobachtet weiter. Kurz darauf taucht Petrus’ Frau auf und schüttet mit einer weit ausholenden, leichten Bewegung einen Schmutzwassereimer aus. Eine hübsche Frau, denkt er bei sich, mit ihrem langen Rock und ihrem nach Landessitte hochgebundenen Kopftuch. Eine hübsche Frau und ein glücklicher Mann. Aber wo sind sie gewesen?
      »Petrus ist zurück«, sagt er zu Lucy. »Mit einer Ladung Baumaterial.«
      »Gut.«
      »Warum hat er dir nicht gesagt, daß er fortfährt?
      Kommt es dir nicht seltsam vor, daß er ausgerechnet zu dieser Zeit verschwindet?«
      »Ich kann Petrus nicht herumkommandieren. Er ist sein eigener Herr.«
      Eine unlogische Folgerung, aber er läßt sie durchgehen. Er hat beschlossen, Lucy erst einmal alles durchgehen zu lassen.
      Lucy bleibt für sich, zeigt keine Gefühle, interessiert sich für nichts um sie herum. Ihm bleibt es überlassen, unkundig in bäuerlichen Angelegenheiten, wie er ist, die Enten aus ihrem Verschlag zu lassen, das Bewässerungssystem zu bedienen und Wasser in Gräben zu leiten, um den Garten vor dem Vertrocknen zu retten. Lucy bringt Stunde um Stunde damit zu, auf dem Bett zu liegen, vor sich hin zu starren oder alte Zeitschriften durchzublättern, von denen sie einen unbegrenzten Vorrat zu haben scheint. Sie blättert sie schnell und ungeduldig durch, als suche sie in ihnen etwas, was nicht dort ist. Edwin Drood nimmt sie nicht mehr zur Hand.
      Er entdeckt Petrus beim Wasserreservoir, in seinem Arbeitsoverall. Es wirkt eigenartig, daß der Mann sich noch nicht bei Lucy zurückgemeldet hat. Er schlendert hinüber, tauscht Grüße aus. »Sie müssen es gehört haben, wir hatten hier am Mittwoch in Ihrer Abwesenheit einen großen Raubüberfall.«
      »Ja«, sagt Petrus. »Ich habe es gehört. Das ist sehr schlimm, eine sehr schlimme Sache. Aber jetzt sind Sie in Ordnung.«
      Ist er in Ordnung? Ist Lucy in Ordnung? War das eine Frage von Petrus? Es klingt nicht wie eine Frage, aber er kann es nicht anders verstehen, nicht anständigerweise.
      Die Frage ist, wie lautet die Antwort?
      »Ich lebe«, sagt er. »Solange man lebt, ist man in Ordnung, schätze ich. Also ja, ich bin in Ordnung.« Er macht eine Pause, wartet, läßt ein Schweigen entstehen, ein Schweigen, das Petrus mit der nächsten Frage ausfüllen sollte: Und wie geht es Lucy?
      Er irrt sich. »Fährt Lucy morgen auf den Markt?« fragt Petrus.
      »Ich weiß nicht.«
      »Weil sie ihren Stand verliert, wenn sie nicht hinfährt«, sagt Petrus. »Vielleicht.«
      »Petrus möchte wissen, ob du morgen auf den Markt fährst«, teilt er Lucy mit. »Er macht sich Sorgen, daß du deinen Stand verlieren könntest.«
      »Warum fahrt ihr beiden nicht hin«, sagt sie. »Mir ist nicht danach.«
       
     
      »Bist du sicher? Es wäre schade, eine Woche zu verpassen.«
      Sie antwortet nicht. Sie würde ihr Gesicht lieber verstecken, und er weiß, warum. Wegen der Schande. Wegen der Schmach. Das haben ihre Besucher erreicht; das haben sie dieser selbstbewußten, modernen jungen Frau angetan.
      Wie ein Schmutzfleck breitet sich die Geschichte in der ganzen Gegend aus. Nicht Lucys Version, sondern die der Männer – sie sind die Urheber. Wie sie Lucy zurechtgewiesen haben, wie sie ihr gezeigt haben, wofür eine Frau da ist.
       
     
      Als Einäugiger mit dem weißen Kopfverband hat er seine eigene Scheu, sich in der Öffentlichkeit zu zeigen. Aber Lucy zuliebe unterzieht er sich dem Markttreiben, sitzt neben Petrus am Stand, erträgt das neugierige Starren, antwortet denjenigen von Lucys Freunden höflich, denen es beliebt, ihr Mitgefühl zu äußern. »Ja, wir haben ein

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