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Schande

Schande

Titel: Schande Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J. M. Coetzee
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Gästezimmer?«
      »Die Deckenbalken sind fort.«
      »Und das große Zimmer hinten?«
      »Der Tiefkühlschrank ist zu laut.«
      Das stimmt nicht. Der Tiefkühlschrank im Hinterzimmer summt kaum. Der Grund, weshalb Lucy dort nicht schlafen will, ist der Inhalt des Tiefkühlschranks: Innereien, Knochen, Schlachtfleisch für Hunde, die es nicht mehr brauchen.
      »Nimm mein Zimmer«, sagt er. »Ich schlafe hier.« Und er macht sich sofort daran, seine Sachen auszuräumen.
      Aber will er wirklich in diese Zelle umziehen, mit den Kisten voll leerer Konservengläser in einer Ecke und dem winzigen, nach Süden blickenden Fenster? Wenn die Geister von Lucys Vergewaltigern sich noch in ihrem Schlafzimmer herumtreiben, dann sollten sie ganz bestimmt verjagt werden, und es sollte ihnen nicht gestattet sein, sich dort einzunisten. Also bringt er seine Sachen in Lucys Zimmer.
      Der Abend bricht herein. Sie haben keinen Hunger, doch sie essen. Essen ist ein Ritual, und Rituale erleichtern alles.
      So freundlich wie er kann, bringt er wieder seine Frage an. »Lucy, mein Schatz, warum willst du es nicht sagen? Es war ein Verbrechen. Man braucht sich nicht zu schämen, wenn man Opfer eines Verbrechens geworden ist. Du warst nicht freiwillig das Opfer. Du bist unschuldig.«
      Lucy sitzt ihm am Tisch gegenüber und holt tief Luft, sammelt sich, dann atmet sie wieder aus und schüttelt den Kopf.
      »Darf ich raten?« sagt er. »Willst du mich auf etwas hinweisen?«
      »Worauf soll ich dich hinweisen wollen?«
      »Darauf, was Frauen von Männern zu erleiden haben.«
      »Nichts liegt mir ferner. Das hat nichts mit dir zu tun, David. Du möchtest wissen, warum ich nicht eine bestimmte Anzeige bei der Polizei gemacht habe. Ich will es dir sagen, wenn du bereit bist, nicht wieder auf das Thema zurückzukommen. Der Grund ist der: aus meiner Sicht ist das, was mir zugestoßen ist, eine rein private Angelegenheit. Zu einer anderen Zeit, an einem anderen Ort, könnte das als öffentliche Angelegenheit betrachtet werden. Aber hier und heute nicht. Es ist meine Sache, ganz allein meine.«
      »Und dieser Ort wäre?«
      »Dieser Ort ist Südafrika.«
      »Da bin ich nicht einverstanden. Ich bin nicht einverstanden damit, was du tust. Glaubst du, du könntest dich von Farmern wie Ettinger distanzieren, wenn du einfach hinnimmst, was dir geschehen ist? Glaubst du, was hier geschehen ist, war eine Prüfung – wenn du sie bestehst, bekommst du ein Diplom, und die Zukunft ist gesichert, oder du darfst ein Zeichen an die Türpfosten machen, damit dich die Plage verschont? So funktioniert Vergeltung nicht, Lucy. Vergeltung ist wie eine Feuersbrunst. Je mehr sie verschlingt, desto hungriger wird sie.«
      »Hör auf, David! Ich will dieses Gerede von Plagen und Feuersbrünsten nicht hören. Ich versuche nicht, einfach meine Haut zu retten. Wenn du das glaubst, dann liegst du völlig daneben.«
      »Dann hilf mir. Ist es eine Art der privaten Erlösung, die du zu erlangen suchst? Hoffst du darauf, daß du die Verbrechen der Vergangenheit sühnen kannst, indem du in der Gegenwart leidest?«
      »Nein. Du verstehst mich wieder falsch. Schuld und Erlösung sind abstrakte Begriffe. Ich handele nicht nach abstrakten Begriffen. Bis du nicht den Versuch machst, das zu begreifen, kann ich dir nicht helfen.«
      Er will etwas entgegnen, aber sie schneidet ihm das Wort ab. »David, wir haben etwas ausgemacht. Ich möchte dieses Gespräch nicht weiterfuhren.«
      Noch nie waren sie sich so fern und schmerzlich fremd.
      Er ist erschüttert.  

  14. Kapitel
 
      Ein neuer Tag. Ettinger ruft an und bietet an, ihnen »inzwischen« ein Gewehr zu leihen. »Vielen Dank«, antwortet er. »Wir überlegen es uns.«
      Er holt Lucys Werkzeug hervor und repariert die Küchentür, so gut er kann. Sie sollten eigentlich Gitter anbringen, Sicherheitstüren, eine Umzäunung, wie es Ettinger getan hat. Sie sollten das Farmhaus in eine Festung verwandeln. Lucy sollte sich eine Pistole zulegen und ein Funksprechgerät und Schießunterricht nehmen.
      Aber wird sie jemals einwilligen? Sie ist hier, weil sie das Land liebt und die alte, ländliche Lebensweise. Wenn diese Lebensweise zum Untergang verurteilt ist, was soll sie dann noch lieben?
      Katy wird aus ihrem Versteck gelockt und in der Küche untergebracht. Sie ist eingeschüchtert und ängstlich, folgt Lucy überallhin, bleibt ihr dicht auf den Fersen.
      Das Leben ist von einem Moment

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