Schande
und erst recht kein guter Kerl. Meiner Meinung nach kann es Petrus gar nicht abwarten, daß Lucy aufgibt.
Wenn Sie einen Beweis wollen, brauchen Sie nicht weiter zu suchen – schauen Sie doch, was Lucy und mir zugestoßen ist. Vielleicht hat Petrus es sich nicht ausgedacht, aber er hat ganz bestimmt weggeschaut, er hat uns bestimmt nicht gewarnt, er hat es bestimmt so eingerichtet, daß er nicht in der Nähe war.«
Seine Heftigkeit überrascht Bev Shaw. »Arme Lucy«, flüstert sie; »sie hat soviel durchgemacht!«
»Ich weiß, was Lucy durchgemacht hat. Ich war dort.«
Mit großen Augen starrt sie ihn an. »Aber Sie sind nicht dort gewesen, David. Sie hat es mir erzählt. Sie waren nicht dort.«
Du bist nicht dort gewesen. Du weißt nicht, was geschehen ist.
Er steht vor einem Rätsel. Wo ist er nach Bev Shaw, nach Lucy, nicht gewesen? In dem Raum, wo die Eindringlinge ihre Verbrechen verübten? Glauben sie, er wüßte nicht, was Vergewaltigung ist? Glauben sie, er hätte nicht mit seiner Tochter gelitten? Wovon hätte er noch Augenzeuge werden können, was er sich nicht vorstellen kann?
Oder glauben sie, daß, wenn es um Vergewaltigung geht, kein Mann sein kann, wo die Frau ist? Wie die Antwort auch lauten mag, er ist empört, empört darüber, wie ein Außenstehender behandelt zu werden.
Er kauft ein kleines Fernsehgerät als Ersatz für das gestohlene. Abends sitzen Lucy und er nebeneinander auf dem Sofa und sehen die Nachrichten und danach, wenn sie es ertragen können, das Unterhaltungsprogramm.
Es stimmt, sein Besuch hat schon zu lang gedauert, das finden sowohl er als auch Lucy. Er hat es satt, aus dem Koffer zu leben, hat es satt, die ganze Zeit zu lauschen, ob der Kies auf dem Weg knirscht. Er möchte wieder an seinem eigenen Schreibtisch sitzen, in seinem Bett schlafen können. Aber Kapstadt ist weit weg, fast ein anderes Land.
Trotz Bevs Rat, trotz Petrus’ Beteuerungen, trotz Lucys Starrköpfigkeit ist er nicht bereit, seine Tochter zu verlassen. Vorläufig lebt er hier: in dieser Zeit, an diesem Ort.
Er kann mit seinem Auge wieder tadellos sehen. Seine Kopfhaut heilt allmählich ab; er braucht keine Brandbinden mehr anzulegen. Nur das Ohr muß noch täglich versorgt werden. Also heilt die Zeit in der Tat alles. Wahrscheinlich findet auch bei Lucy ein Heilungsprozeß statt, oder wenn kein Prozeß der Heilung, dann einer des Vergessens, bei dem das Gewebe um die Erinnerung an diesen Tag vernarbt, sie einschließt, abkapselt. Damit Lucy irgendwann einmal sagen kann: »Am Tag, als wir ausgeraubt wurden«, und sich daran nur als den Tag erinnert, an dem sie ausgeraubt wurden.
Er versucht, sich tagsüber draußen aufzuhalten, damit Lucy sich frei im Haus bewegen kann. Er arbeitet im Garten; wenn er müde ist, sitzt er beim Wasserbecken und beobachtet das Auf und Ab der Entenfamilie, sinnt nach über das Byron-Projekt.
Das Projekt kommt nicht voran. Mehr als Bruchstücke bekommt er nicht zu fassen. Die ersten Worte des ersten Aktes sträuben sich; die ersten Noten scheinen so flüchtig wie Rauchfahnen. Manchmal fürchtet er, daß die Gestalten in der Geschichte, die seit über einem Jahr seine gespenstischen Begleiter gewesen sind, allmählich verblassen. Selbst die reizvollste von ihnen, Margarita Cogni, deren leidenschaftliche Alt-Attacken gegen Byrons Flittchen Teresa Guiccioli er begierig ist zu hören, entgleitet ihm.
Daß sie ihm verlorengehen, erfüllt ihn mit Verzweiflung, Verzweiflung, so grau und gleichmäßig und unwichtig im größeren Zusammenhang wie Kopfschmerzen.
So oft wie möglich begibt er sich in die Klinik des Tierschutzbundes und bietet an, die Aufgaben zu übernehmen, die keine besonderen Fähigkeiten verlangen: Füttern, Saubermachen, Aufwischen.
In der Klinik werden hauptsächlich Hunde behandelt, weniger häufig Katzen; für Vieh hat die Siedlung D offenbar ihre eigenen tierärztlichen Überlieferungen, ihre eigenen Heilmittel, ihre eigenen Heiler. Die Hunde, die hergebracht werden, haben Staupe, gebrochene Gliedmaßen, infizierte Bißwunden, Räude, sie leiden an Vernachlässigung, gut- oder bösartig, an Altersschwäche, Unterernährung, Darmparasiten, aber am allermeisten an ihrer Fruchtbarkeit. Es gibt einfach zu viele von ihnen.
Wenn die Leute mit einem Hund kommen, dann sagen sie nicht geradezu: »Ich habe den Hund hergebracht, damit er getötet wird«, aber das erwartet man: daß man ihn entsorgt,
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