Schandtat
Geht es Mom auch so?«
Ich lachte. »Du bist eben daran gewöhnt, dass alles ständig gleich bleibt, weil du schon so alt und gebrechlich bist. Und nein, Mom geht es nicht so.«
»Warum nicht?«
Ich sah ihn an und fragte mich, wie es wohl gewesen wäre, bei ihm aufzuwachsen. Ich fragte mich, ob ich anders geworden wäre. »Weil sie nie da ist.«
Er zögerte, und eine gute Minute verstrich. »Warum hast du das mit deinen Haaren gemacht?«
»Ich wollte etwas Weiblicheres. Du weißt schon, trendiger.«
Er lachte. »Ein Statement.«
»Lass mich raten, du hältst mich für trotzig.«
Er lächelte, nahm sich einen Moment Zeit und zuckte dann die Achseln. »Das denke ich tatsächlich, Poe. Aber womöglich hast du recht. Manchmal muss der Baum vielleicht einfach ordentlich gerüttelt werden.«
»Was passiert mit Colby?«
»Ich weiß es nicht, aber ich möchte, dass du dich von ihm fernhältst.«
»Er ist ein Psychopath.«
»Geh ihm aus dem Weg, Poe. Meide ihn.«
»Das ist deine Antwort auf alles, was? Meide Sex, meide Schlägertypen, meide Konflikte, meide Ungerechtigkeiten, halt dich an die Regeln. Es ist doch immer dasselbe. Ich glaub, Theo hat recht.«
»Womit hat Theo recht?«
Ich starrte ihn an. »Damit, dass die vielen kleinen Dinge, die wir einfach so akzeptieren, unsere Welt zu einem dermaßen beschissenen Ort machen.«
NEUNZEHN
Am nächsten Tag wurde unsere Klasse zu Beginn der fünften Stunde von der Schulverwaltung über Lautsprecher angerufen. Poe Holly solle sich umgehend im Sekretariat melden. Man konnte glatt meinen, in der Geschichte von Benders Hollow hätte noch nie jemand einen Iro gesehen. Mir gegenüber hatte allerdings niemand auch nur ein einziges Wort darüber verloren, und das gefiel mir ganz gut. Schweigen war manchmal eben Gold.
Ich schnappte mir meine Sachen. Angesichts der Frage, was da möglicherweise vor sich ging, war mir etwas mulmig zumute, und auf dem Weg zum Sekretariat ließ ich mir Zeit. Colby hatte in der dritten Stunde nicht an »Aktuelles Zeitgeschehen« teilgenommen, und es gab keine weiteren Gerüchte darüber, was derzeit im Gange war, abgesehen von irgend so einer Ermittlung. Auch Velveeta war nicht in der Schule.
Ms Appleway lächelte, als sie mich sah, und mit glänzenden Augen betrachtete sie meinen Iro. »Freut mich, dass Sie wieder da sind, Poe.«
»Danke.« Ich sah zum Büro des stellvertretenden Schulleiters hinüber. »Da rein?«
Sie schüttelte den Kopf, und ihre Augen verloren ein wenig von ihrem Glanz. »Nein. Ins Büro Ihres Vaters.«
»Geht’s um mich oder um Colby Morris?«
Der Glanz erlosch vollends. Sie beugte sich vor und sprach leiser. »Sein Name ist Mr Dwight Worthy, ehemaliger Detective der Highway Patrol und der für diesen Fall zuständige Ermittler. Er wartet schon.«
Ich ging an Mr Averys Büro vorbei, den Flur hinunter und rechnete damit, bei Mr Worthy auch meinen Dad vorzufinden. Doch er war nirgends zu sehen. Mr Worthy saß an seinem Schreibtisch und studierte eine Akte - meine Akte, garantiert. Ich stand an der Tür; er blickte nicht auf, hatte mich aber bemerkt. »Nehmen Sie bitte Platz, junge Dame.«
Brav setzte ich mich hin. Dann erst blickte er auf und musterte mich mit ausdrucksloser Miene. Oben war er kahl, der Rest war stoppelkurz geschoren, und der weiße Hemdkragen saß ziemlich eng um seinen dicken Hals. Das Alter hatte sein Gesicht gezeichnet, und ich schätzte ihn auf etwa sechzig. Seine Augen lagen blau und ausdruckslos hinter einer silbernen Lesebrille, und seine Schultern waren breiter als der Stuhl. Er sah genauso aus, wie man es von ihm erwartete. Ein Cop eben. Über den Rand seiner Brillengläser warf er mir einen prüfenden Blick zu. »Poe Holly.«
Ich kniff die Augen zusammen. »Dwight Worthy.«
Er starrte mich mit seinen kalten, harten Bullenaugen an, die jahrelange Erfahrung war ihm anzusehen. »Detective Worthy.«
»Ehemaliger Detective Worthy.«
Seine Verärgerung war nur am leichten Absacken seiner massigen Schultern zu erkennen. Sein Blick wanderte zu meiner Akte. »Ich nehme an, Sie wissen, warum Sie hier sind.«
»Colby Morris.«
»Sie waren Zeugin des mutmaßlichen Angriffs?«
»Der war nicht mutmaßlich.«
»Erzählen Sie mir, was passiert ist.«
Das tat ich, und während der nächsten fünf Minuten hörte er mir ohne einen Wimpernschlag zu, musterte mich nur die ganze Zeit. Als ich fertig war, lehnte er sich zurück und rieb sein Kinn. »Und Sie wissen, warum diese Tat mutmaßlich
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