Schandtat
kehren und darüber zu reden, was für ein Opfer ich doch war, denn ich war keins, und mein Dad war definitiv auf dem Holzweg, wenn er glaubte, ich würde ihm aus der Klemme helfen, indem ich den Anfang machte. Doch dann hob ein fettes Mädchen die Hand. Dad nickte, bedeutete ihr aufzustehen, und sie legte los. Fettsack, Fettarsch, fettes Miststück, Schmalzklops - sie begann damit, wie sie von den Leuten genannt wurde. Ihr Dad nannte sie Tönnchen, sie aß grundsätzlich nicht in der Öffentlichkeit, weil die Jungen dann immer Grunzgeräusche machten, sie hatte noch nie einen Freund gehabt und würde auch niemals einen haben, sie hasste sich selbst und schwitzte zu viel. Als sie fertig war, kullerten ihr dicke Tränen über die Wangen, und sie setzte sich wieder hin, begrub das Gesicht in den Händen und schluchzte. So, jetzt konnte die Trauerarbeit beginnen …
In der nächsten halben Stunde hörten wir eine Geschichte nach der anderen über die Ungerechtigkeit, die Person zu sein, die man war, und auf halber Strecke begriff ich, dass es offenbar leichter fiel, sich in seinem eigenen Elend zu suhlen, wenn andere Leute da waren, die das Gleiche taten. Ich ertappte mich bei dem Gedanken, dass diese Veranstaltung womöglich einem anderen Zweck dienen könnte als nur der Schadensbegrenzung wegen der Sache mit Velveeta, und ich fühlte mich nicht ganz wohl dabei. Es war wie eine Massenhuldigung der Opferrolle, an deren Ende der Schierlingsbecher mit Brausepulver herumgereicht wird. Ganz vorn saß sogar ein Junge, der eine gewisse Ähnlichkeit mit diesem Sektenführer Jim Jones hatte.
Es ging noch weiter. Der magere Trottel mit der fiesen
Akne und den Second-Hand-Klamotten, der keine Freunde hatte, war wahrscheinlich der Harmloseste von allen. Am Ende hatte er den halben Raum zu Tränen gerührt, mit seiner Erzählung, wie er ständig beschimpft und verspottet wurde - ganz besonders vom Ringerteam. Bei denen hatte er sich nämlich im vergangenen Jahr angemeldet - auf Drängen seiner Eltern, sich doch besser einzufügen. Doch er machte keinen guten Schnitt und zog somit den Spott und den Zorn der gesamten Mannschaft auf sich. Er sprach mit lebloser, monotoner Stimme, als lese er sein Leben aus einem Lehrbuch vor, und mir wurde klar, dass er vermutlich der einsamste Mensch auf der ganzen Welt war.
Doch es gab auch noch andere. Der zu kurz geratene Junge namens Kevin, dem es vor der Schule graute, weil ihn die anderen jede Woche in die Mülltonnen steckten. Der Hetero-Junge, der sich aber schwul benahm und deswegen ständig gequält wurde. Das wichtigtuerische, laute Mädel, das einfach nicht dahinterkam, warum die anderen Mädchen nichts mit ihr zu tun haben wollten. Der Junge, den sie »Mini« nannten und der seinen Spitznamen aus der Jungsumkleide hatte. Diese Veranstaltung zur Verherrlichung einer echt kranken Vielfalt kotzte mich an.
Nachdem alle, die etwas zu sagen hatten, emotional völlig verausgabt waren, stand Mr Halvorson auf, mit ernster, mitfühlender Miene. Er ging langsam auf und ab, wollte eine gewisse Spannung erzeugen, bevor er begann. »Wir wissen, was alles in dieser Welt geschieht. Wir wissen, dass das Leben manchmal unfair und gemein und schmerzhaft ist, aber dann müssen wir in uns selbst hineinschauen und unser wahres Ich erkennen. Die wahre Person in unserem Innern.
Die Person, die wir wirklich sind und die die lästigen Fesseln der Andersartigkeit abschütteln und eins mit sich selbst und den Menschen um sich herum sein will. Stimmen Sie mir zu?«
Einige Leute nickten, und mit erhobenem Zeigefinger sprach er weiter. »Der Schlüssel dazu ist die Erkenntnis, dass wir in der Tat alle gleich sind. Der Junge, der Ihnen ein Schimpfwort an den Kopf wirft, oder das Mädchen, das Sie ignoriert, haben ebenfalls Gefühle. Gefühle wie Schmerz und Wut und Trauer, die sie dazu bringen, all das zu tun, Gefühle, die sie dazu veranlassen, anderen wehzutun. Wir müssen das verstehen und begreifen, dass wir nicht anders sind.« Er hielt inne und blickte erwartungsvoll durch den Raum. »Nun frage ich also Sie: Was können wir tun, wenn wir mit derartigen Widrigkeiten konfrontiert werden? Sollten wir uns noch mehr isolieren, sei es durch harsche Worte oder durch ungute Gefühle, oder sollten wir den nötigen Mut und das Mitgefühl aufbringen, um zu verstehen, warum das alles geschieht? Um unserm Denken eine andere Richtung zu geben?«
Er deutete auf den Jungen mit der fiesen Akne. »Karl, wie fühlen Sie sich,
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