Scharade der Liebe
»Ist schon gut«, wisperte sie wieder. »Was ist dann passiert? Könnt Ihr es mir erzählen?«
»Lev sagte mir, er würde am nächsten Tag bei meinem Vater um mich anhalten. Sie würden einen Ehevertrag vorbereiten. Alles würde in Ordnung kommen.«
»Habt Ihr Eurem Vater nicht erzählt, was er Euch angetan hatte?«
Alice schüttelte den Kopf. »Das hätte nichts bewirkt. Er hätte sich aufgeregt, und dann hätte er genau das getan, was Lev erwartete. Er hätte mich gezwungen, ihn zu heiraten. Wahrscheinlich hätte mein Vater sogar mir die Schuld gegeben und mir vorgeworfen, Lev verführt zu haben, ihn gezwungen zu haben, mich zu heiraten.«
»Was war dann?«
»Ich hatte Farley kennen gelernt. Ich liebte ihn. Ich lief weg, zu ihm. Er wohnte in London, in der Jermyn Street. Er nahm mich auf. Ich wusste, dass mein Vater nach mir suchte, aber er wäre nie auf den Gedanken gekommen, dass ich bei Farley sein könnte. Ich blieb bei Farley, und dann heirateten wir. Neun Monate später kam Gray zur Welt.«
Jack taumelte zurück. Jetzt war alles vorbei. Keine Hoffnung mehr. Es blieb nichts. Sie wusste, dass sie weinte, aber es kam kein Laut von ihren Lippen. Alles in ihr war zerborsten, und ihr blieb nur diese Leere, die sie bis in den Tod begleiten würde. Und sie würde allein sterben. Sie würde niemals Gray zum Mann haben, er würde nie ihr Leben mit ihr teilen. Es war vorüber, noch bevor es begonnen hatte. Sie konnte es einfach nicht ertragen. Langsam stand sie auf, hob ihr Gesicht zum Himmel und schrie: »Nein!«
»Was ist los?«
Das war Alice. Auf einmal klang sie völlig normal, so als ob sie über das Wetter redete.
»Ich bin mit Gray verheiratet, und ich liebe ihn, und er ist mein Halbbruder ... Das ist los!«
Sie hätte die Frau am liebsten umgebracht, einfach die Hände um ihren weißen Hals gelegt und so lange zugedrückt, bis dieser verdammte Schmerz in ihr nachließ.
Aber er wäre auch dann nicht vorüber.
»Ihr seid Levs Tochter«, sagte Alice. »Mein Sohn hat mir heute Nachmittag gesagt, dass er Euch geheiratet hat.«
»Ja, ich bin Levs Tochter.«
»Ihr seht ihm ähnlich. Es hat mich erschreckt, wie sehr Ihr ihm ähnlich seht.«
»Ja, ich weiß. Ich sehe auch Eurem Sohn ein wenig ähnlich, der Euer Aussehen und das seines Vaters Lev geerbt hat. Ist Euch das noch nicht aufgefallen? Wir sind beide blond. Meine Augen sind blau und seine grün, also kein großer Unterschied.«
»Wovon sprecht Ihr? Ich verstehe Euch nicht, Mädchen.«
»Lev ist mein Vater. Lev ist auch Grays Vater. Das habt Ihr doch gerade gesagt.«
»Ihr glaubt, Lev sei Grays Vater?«
Jack starrte sie verständnislos an und fragte sich, wer von ihnen beiden jetzt wohl verrückt war.
Alice wedelte mit ihrer weißen Hand. »O nein, Ihr dummes Mädchen, Ihr versteht nicht. Als Farley mich aufnahm, meinte ich damit, dass er mich rettete. Ich verlor Levs Kind vier Wochen später, kurz bevor wir heirateten, und ich bin beinahe gestorben, weil die Blutungen gar nicht aufhören wollten. Er pflegte mich und rettete mich. Oh, ich weiß noch gut, er war so glücklich, dass ich nicht mehr das Kind eines anderen Mannes trug. Er betrank sich, so erleichtert war er. Für meinen geliebten Farley spielte es keine Rolle, dass ich keine Jungfrau mehr war, dass Lev mich als Erster besessen hatte. Das spielte erst später eine Rolle, als ich langsam lernte, meine Schuld in der ganzen Angelegenheit einzugestehen. Farley versuchte, mir meine Schuld zu erklären. Ich sollte zugeben, was ich getan hatte, und jeden Abend zu Gott beten, dass ich Farley mehr verdankte als jedem anderen Menschen. Und das stimmte auch.«
Jack sagte langsam: »Offensichtlich hat Lev immer geglaubt, Gray sei sein Sohn. Er erzählte Lord Burleigh, Gray sei sein Sohn, und er glaubte ihm.«
Zum ersten Mal lächelte Alice, ein schönes, strahlendes Lächeln. »Ja, ich weiß. Es gefiel Farley, ihn in dem Glauben zu lassen. Damit konnte er mich bestrafen. So etwas gefiel ihm immer.«
»Lev nannte mich Graciella, damit zumindest mein Name Gray nahe war.«
»Lev war ein Dummkopf. Er wäre besser in den Kolonien gestorben. Er hat mich verfolgt, der Bastard. Nachdem Gray Farley umgebracht hatte, ist er hierher nach Needle House gekommen. Er wollte mich immer noch, ich weiß es. Ich weiß, dass er von mir hören wollte, dass Gray sein Sohn ist. Ich weigerte mich, ihn zu empfangen. Jeffrey erzählte ihm von meiner schrecklichen Krankheit. Er musste wieder gehen. Schließlich ist
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