Scharade der Liebe
lang Panik, aber dann wurde ihr klar, dass er sich gerade hier von ihr so fern wie möglich halten würde.
Sie seufzte, als sie zum Kamin trat und ihre Hände über dem Feuer wärmte. Gerade hatte sie Georgie einen Gutenachtkuss gegeben. Sie war zufrieden damit, mit Dolly in einem Zimmer zu schlafen, zumal Nella auf dem gleichen Flur schlief und auch Jack nur zwei Türen weiter war.
Wo war Gray?
Er war so still gewesen, nachdem sie das Zimmer seiner Mutter verlassen hatten. Jetzt war es zehn Uhr abends. Grübelte er? Dachte er darüber nach, wie er ihre Ehe annullieren konnte?
Sie wusste es einfach nicht. Erregt ging sie in ihrem schönen Schlafzimmer mit den Herbstfarben auf und ab. Die Standuhr in der Halle schlug zwölf Mal.
Mitternacht?
Sie war überhaupt noch nicht müde. Sie wollte Gray. Wenn sie gewusst hätte, wo er war, wäre sie sofort zu ihm geeilt. Sie wollte ihn in den Armen halten, ihn küssen, auch wenn sie wusste, dass er sich dagegen wehren würde.
Die Zeit verstrich, und dann konnte sie es einfach nicht mehr aushalten. Sie ergriff eine Kerze und verließ ihr Schlafzimmer. Sie ging den dunklen Korridor bis zum Ende des Ostflügels entlang.
An der Tür zum Zimmer ihrer Schwiegermutter hob sie die Hand, um anzuklopfen, ließ sie dann aber wieder sinken.
Und wenn sie nun schliefe? Schließlich war es schon nach Mitternacht. Dann jedoch sah sie Licht unter der Tür. Langsam drehte sie den Türknopf. Wenn Alice bereits schlief, dann würde sie gleich wieder gehen.
Alice St. Cyre saß immer noch bewegungslos im gleichen Sessel. Neben ihr stand ein Kerzenleuchter mit brennenden Kerzen. In ihrem Schoß lag ein Buch. Die Augen hatte sie geschlossen und lehnte sich mit dem Kopf gegen die dicken Kissen in ihrem Rücken.
Jack wusste nicht, was sie tun sollte. Sie stand einfach nur da und starrte auf die schöne Frau, die sich nicht bewegte. Sie las Bücher? Wenn sie das noch tat, dann konnte sie gar nicht wirklich verrückt sein und völlig in einer anderen Welt leben.
»Warum kommt Ihr nicht einfach her?«
Jack zuckte zusammen, als die leise Stimme ertönte.
»Ja, Ma'am.«
»Kommt, setzt Euch neben mich, damit ich Euch besser sehen kann.«
Jack holte sich einen Stuhl und setzte sich.
»Es tut mir Leid, dass ich Euch störe, Ma'am.«
»Es tut Euch überhaupt nicht Leid. Ihr platzt geradezu vor Energie. Was wollt Ihr?«
Alice hatte sie immer noch nicht direkt angesehen. Stattdessen blickte sie auf den schmalen Band Voltaire in ihrem Schoß.
Eine Geisteskranke, die Voltaire las?
»Ihr konntet es nicht ertragen, mich heute Nachmittag anzusehen. Ihr habt die Hände vor das Gesicht geschlagen und gesagt, Ihr wolltet mich nicht sehen und ich solle Weggehen.« Jack schwieg einen Augenblick, dann fragte sie etwas, was sie eigentlich gar nicht fragen wollte. »Erkennt Ihr mich, Ma'am? Erinnere ich Euch an jemanden?«
Alice sagte nichts, sondern saß ganz still da. Ein schöner Schal in verschiedenen Blauschattierungen lag über ihren Schultern.
Jack sagte: »Gray sieht Euch sehr ähnlich. Vielleicht glaubt Ihr, ich sehe jemandem ähnlich, den Ihr kennt? Vielleicht jemandem, den Ihr früher einmal gekannt habt?«
»Gott sei Dank ist er weggegangen.«
»Wer ist weggegangen, Ma'am?«
»Lev. Er ist gegangen. Ich werde ihm nie verzeihen. Er war ein Ungeheuer. Nicht wie mein geliebter Mann. Warum musste Gray ihn umbringen? Warum?«
»Er hat Euren Mann erschossen, weil er Euch geschlagen hat, Ma'am. Gray hatte Angst, er würde Euch töten. Er musste etwas tun. Er musste seine Mutter beschützen. Meiner Meinung nach hat er Euch beiden das Leben gerettet.«
»Ich brauchte nicht gerettet zu werden. Ich brauchte nur Farley. Er liebte mich.«
Gray hatte Recht, dachte Jack. Das war eine Form von Wahnsinn. Sie sagte: »Ma'am, wer ist dieser Lev? Liebtet Ihr ihn?«
Zum ersten Mal blickte Alice ihr direkt ins Gesicht. »Ihr seid sehr jung. Ich war schon länger, als Ihr lebt, nicht mehr jung. Hat er Euch schon geschlagen?«
»Nein, Ma'am.«
»Ah. Wisst Ihr, richtig liebt er Euch erst, wenn er Euch sowohl bestrafen als auch belohnen kann. Ich habe so viel von meinem liebsten Farley gelernt. Dr. Pontefract behauptet zwar, Farley sei nicht bei Sinnen gewesen - kein Mann, der noch bei Verstand sei, würde seine Frau schlagen -, aber was weiß er schon? Ja, Farley versuchte immer wieder, mich zu lehren, ihm und mir zu gefallen. Aber
Gray tötete ihn. Versucht Gray auch, Euch etwas beizubringen?«
»Ja. Aber
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