Scharade der Liebe
er hat mich noch nie geschlagen. Er ist der gleichen Meinung wie Dr. Pontefract. Gray würde niemals eine Frau schlagen.« Sie fragte sich, was Gray wohl dächte, wenn er hörte, was seine Mutter sagte. Welche Erinnerungen würden ihre Worte wohl heraufbeschwören?
»Erkennt Ihr mich, Ma'am?«
Aber Alice, die verwitwete Baroness Cliffe, wandte sich ab. Sie zog sich den Schal fester um die Schultern und verknotete ihn über der Brust. Dann ergriff sie das schmale Bändchen Voltaire, betrachtete es gleichgültig und warf es zu Boden. »Ich bin müde«, sagte sie. »Ich glaube, ich werde jetzt schlafen. Geht. Ich will Euch nicht mehr sehen.«
Jack stand langsam auf, wusste jedoch nicht, was sie tun sollte.
»Nehmt den jungen mit Euch, der meinen liebsten Farley umgebracht hat. Ich wünschte, er würde für immer von hier wegbleiben. Jedes Mal, wenn er geht, hoffe ich, dass er niemals zurückkommt, aber er tut es immer wieder. Ich spreche selten mit ihm, aber er kommt trotzdem immer wieder. Er ist eigensinnig. Aber es spielt keine Rolle. Er hat mir alles genommen, was ich geliebt habe.«
»Dieser Junge ist Euer Sohn. Er liebt Euch. Er hat Euch auch damals geliebt, und deshalb hat er Farley erschossen. Er hat Euch beschützt. Für ihn war es das einzige Mittel, um Euch zu beschützen. Er hat den Mann erschossen, der Euch zu Tode geprügelt hätte. Warum wollt Ihr Euch nicht an die wahren Tatsachen erinnern?«
»Mein liebster Farley hätte mich zu Tode geprügelt? Was für ein Unsinn - Lügen, nichts als Lügen. Ich brauchte nicht beschützt zu werden!« Alice sprang aus ihrem Sessel auf und stürzte sich auf Jack. Ihre dünnen Hände legten sich um Jacks Hals. Gott, die Frau war stark. Aber Jack war größer und stärker, auch wenn sie nicht so wütend war wie Alice.
Es gelang ihr schließlich, Alices Griff zu lösen.
»Hört auf!«, sagte Jack leise, packte die Frau bei den
Schultern und schüttelte sie. Sie wehrte sich, aber Jack hielt sie fest.
»Hört auf!«, flüsterte sie. »Hört einfach auf. Verdammt noch mal, erkennt Ihr mich? Wer ist dieser Lev?«
Alice sackte in sich zusammen. Jack hielt die Frau fest an sich gedrückt. Sie flüsterte: »Sagt mir, ob Gray Euer Sohn ist. Sagt mir, ob Ihr jemals Thomas Levering Bas... - o Gott, das ist Lev, nicht wahr? Ihr habt meinen Vater Lev genannt? Ihr sagtet, er sei ein Ungeheuer gewesen. Was meintet Ihr damit? Ihr sagtet, er sei weggegangen? Bitte, Ihr müsst es mir erzählen!«
Hilflos starrte sie auf Grays Mutter, deren Gesicht totenbleich war. Und es war vollkommen leer, ohne Gefühl, Schmerz oder Erinnerung. Nur ein schönes Gesicht ohne eine Person dahinter.
Jack hatte nichts zu verlieren. Sie holte tief Luft und sagte: »Wenn Ihr mir alles über Thomas Levering Bascombe erzählt, halte ich den Jungen für immer von Euch fern.«
»Er hat meinen Farley umgebracht.«
»Ja. Ich halte ihn von Euch fern, wenn Ihr mir von Lev erzählt.«
Alice erschlaffte in Jacks Armen. Vorsichtig setzte Jack sie wieder in den Sessel und schwenkte ihre Hand vor Alices Gesicht. »Ma'am, was ist mit Euch?«
»Lev wollte mich heiraten«, sagte Alice mit leiser, monotoner Stimme. Sie blickte Jack nicht an. »Er bettelte und bettelte, aber ich hatte Farley kennen gelernt und wollte ihn. Eines Abends waren Lev und ich allein, draußen im Garten meiner Familie. Es war ein warmer Abend, und dünne weiße Wolken zogen über den Mond. Wieder flehte Lev mich an. Dann küsste er mich. Ich sagte ihm, er solle aufhören, aber er hörte nicht auf. An diesem Abend nahm mir Lev meine Unschuld. Er vergewaltigte mich. Und dann sagte er, während er mit gespreizten Beinen und die Hände in die Hüften gestemmt über mir stand, dass ich ihn jetzt heiraten müsse, dass mein Ruf für immer ruiniert sei und ich keine andere Wahl habe. Ich gehörte ihm.«
Alice begann zu schluchzen. Jack beugte sich vor und nahm sie in die Arme. »Es ist schon gut. Das ist sehr, sehr lange her.« Ihr Vater hatte diese Frau vergewaltigt? O Gott, sie konnte es sich gar nicht vorstellen. Nicht ihr Vater, nicht der Mann, den sie vergöttert hatte. Sie erinnerte sich noch so deutlich daran, wie sie vor ihm auf seinem großen Hengst gesessen und er sie summend im Arm gehalten hatte. Und doch spürte sie jetzt die heißen, wütenden Tränen ihrer Schwiegermutter an ihrem Hals. Sie schloss die Augen, aber es gab keine Hoffnung. Sie konnte nicht daran zweifeln, dass es genau so geschehen war, wie Alice es erzählt hatte.
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