Scharade der Liebe
es uns zusammen an.« Gray strich ihr leicht über die Wange. Eine kleine Spinnwebe hing dort, und er wischte sie weg.
Sie entzog sich ihm, ergriff den Kerzenleuchter und stellte ihn auf den Schreibtisch, so dass er das Porträt beleuchtete. Dann trat sie einige Schritte zurück und stellte sich neben Gray. Gemeinsam blickten sie auf das Gemälde.
Sie sahen einen großen, sehr schlanken Mann, der vor einem Stall stand. In der schwarz behandschuhten Hand hielt er einen Sattel. Die andere Hand - ohne Handschuh -lag nachlässig auf seiner Hüfte. Ein Bein war leicht gebeugt, aber er stand aufrecht und stolz da. Er sah gut aus,
trug schöne Reitkleidung und hatte den Kopf zurückgeworfen, als lache er über etwas, das ihm gerade jemand zugerufen hatte.
Gray atmete langsam aus. »Ich hatte ganz vergessen, wie er aussah. Wahrscheinlich wollte ich mich nicht daran erinnern.«
Er war so dunkel wie Luzifer. Man wusste einfach, dass seine Haare unter der weiß gepuderten Perücke schwarz und dicht waren. Seine Haut war bräunlich, seine Augen so dunkel wie ein bodenloser Brunnen und wahrscheinlich genauso schwarz wie seine Haare. Seine Augenbrauen waren dick und geschwungen, und er hatte dichte dunkle Wimpern. Seelenlos blickten seine Augen sie an.
»Ich habe ihn gehasst«, sagte er leise. »Ich habe ihn mehr als irgendjemanden oder irgendetwas sonst in meinem Leben gehasst. Er sieht wie der Leibhaftige aus, nicht wahr? In ihm ist keine Menschlichkeit, nur endlose Grausamkeit und die Freude am Beherrschen. Er glaubte an seine eigene Macht, und er hat sie missbraucht, Jack. Ich weiß es genau. Niemand hat etwas gegen ihn unternommen. Ich erinnere mich, wie er meine Mutter einfach nur immer angesehen hat, ihr wunderschönes Haar berührt und ihr Gesicht gestreichelt hat. Ein Engel und der Teufel. So sahen sie zusammen aus. Ihre blonden Haare und ihre helle Haut faszinierten ihn.«
Seine Stimme klang weit weg, als sei er in der Vergangenheit und sehe alles durch die Augen des Kindes.
»Ja, er muss schon ein toller Mann gewesen sein«, bestätigte sie nüchtern. »Ein großartiger Bursche, meinst du nicht auch? Er schlug seine Frau, schlug seinen Sohn und zeigte keine Gnade, bis sein Sohn, der damals ein kleiner Junge war, den Mut hatte, ihm Einhalt zu gebieten. Nein, oberflächlich gesehen scheint er nichts zu haben, was er dir vererbt haben könnte. Komm, wir betrachten das Bild genauer.«
»Sieh einmal die schwarzen Haare auf seinem Handrücken«, sagte Gray und wies auf die bloße Hand auf der Hüfte seines Vaters. Er hielt seine eigene Hand hoch und betrachtete sie im Kerzenschein. »Seine Hand ist eckig, meine nicht.«
»Er hat lange Beine. Du auch.«
»Viele Männer haben lange Beine«, erwiderte Gray und starrte auf seine Stiefel. »Seine Füße sind lang und schmal. Meine auch. Viele Männer haben lange, schmale Füße. Das heißt nichts, Jack.«
»Er hat starken Bartwuchs. Du kannst es deutlich sehen.«
»Ja, er war recht dunkel. Ich nicht. Ich fürchte, ich komme mehr nach meiner Mutter, Jack.«
Aber Jack hörte ihm nicht zu. Sie starrte Farley St. Cyres Perücke an, die blendend weiß gepudert war und im Nacken von einem schwarzen Band zusammengehalten wurde. Ganz langsam berührte sie mit der Fingerspitze seine Stirn. »Sieh einmal genau hin, Gray.«
»Was ist? Er trägt eine Perücke. Das war damals so Mode.«
»Nein, siehst du nicht, dass die Perücke nicht völlig mit dem Haaransatz übereinstimmt? Siehst du das nicht? Er hat Geheimratsecken, Gray. Hier kannst du die schwarzen Haare sehen, die die Perücke nicht bedeckt.« Sie wandte sich lächelnd ihm zu und berührte seine Stirn. »Genau wie du. Sie sind zwar nur klein, aber sie sind da.«
Fasziniert sah er sie an. »Ich wusste noch nicht einmal, dass es einen Namen dafür gibt. Geheimratsecken? Haben die nicht alle?«
»O nein, keineswegs. Bei dir sieht man sie nicht, weil deine Haare darüber fallen, aber bei ihm ist es ganz deutlich.«
»Geheimratsecken«, sagte er langsam und trat einen Schritt zurück. »Soll ich dieses Ungeheuer als meinen Vater anerkennen, nur weil wir diesen ungewöhnlichen Haaransatz gemeinsam haben?«
»Nun, es gibt auch noch einen anderen Grund«, erwiderte Jack und erzählte ihm, dass sie seine Mutter aufgesucht und was diese ihr berichtet hatte.
»Kannst du dich erinnern, dass Thomas Levering Bas-combe nach der Beerdigung deines Vaters hierher gekommen ist?«
»Nein, ich kann mich überhaupt nicht an ihn
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