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Scharfe Pranken

Scharfe Pranken

Titel: Scharfe Pranken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: G. A. Aiken
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ihnen gegangen war. Sie hatten nichts für ihn tun können. Wahrscheinlich hätte auch kein Gestaltwandler-Arzt etwas für ihn tun können. Die Verletzungen waren einfach zu gravierend gewesen. Als alles vorbei gewesen war, war ihm nur noch der Junge geblieben. Das einzige Kind seines Bruders. Grigori war damals bei den Marines gewesen, bei der selten erwähnten, aber sehr berühmten reinen Gestaltwandler-Einheit. Er war sofort freigestellt worden, um an das Krankenbett seines Bruders eilen zu können. Grigori hatte jedoch angenommen, dass sein älterer Bruder den Jungen bei sich aufnehmen würde.
    Wie falsch er damit doch gelegen hatte. Sein ältester Bruder hatte vor etlichen Jahren geschworen, Bolds Vater wegen irgendeines dummen Streits, den die beiden damals gehabt hatten, niemals zu verzeihen, und allem Anschein nach hatte er es auch so gemeint. Er hatte ihm nicht verziehen. Und obwohl er noch immer ein nettes, ruhiges Leben in Ursus County mit vier Kindern und einer Frau führte, die mit Leichtigkeit mit noch einem weiteren Kind zurechtgekommen wäre, das eine Familie brauchte, war es dazu nicht gekommen.
    Grigori wusste, dass ein Hybriden-Bärenjunges nicht allzu viele Optionen hatte. Pflegefamilien. Waisenhaus. Ein Leben bei Vollmenschen. Grigori hatte allein den Gedanken daran nicht ertragen. Also hatte er seinen Vorgesetzten um seine Entlassung gebeten. Für einen vollmenschlichen Marine wäre das nicht so leicht gewesen, aber für Gestaltwandler herrschten etwas andere Regeln. Manchmal ging es einfach nicht anders, wenn sie sich um ihre Jungen kümmern mussten. Und so hatte sich Grigori der Aufgabe gewidmet, den ruhigen, ordentlichen kleinen Jungen mit dem strikten Zeitkonzept großzuziehen. Es war nicht leicht gewesen. Grigori war damals erst neunundzwanzig gewesen, und normalerweise leisteten die Bärinnen bei ihren Jungen den Großteil der Erziehungsarbeit. Grigori hatte sich davon jedoch nicht abhalten lassen. Der Junge brauchte ihn – welcher Zehnjährige legte schon seine Socken zusammen, wenn es ihm sein befehlshabender Offizier nicht ausdrücklich befahl? Außerdem hatte der Junge diese seltsame Zeitfixierung, und dann diese Listen, mein Gott. Anfangs befürchtete Grigori, der Junge könne durch den Unfall geistige Schäden davongetragen haben. In den ersten paar Monaten hielt er Ausschau nach Anzeichen dafür, dass der Junge Tiere quälte oder seltsame Bilder malte, auf denen Leute ermordet wurden. Er war einfach viel zu still. Zu höflich. Zu ernsthaft. Besonders für ein Bären- oder Löwenjunges.
    Wann immer er mit dem Jungen zu Marci Luntz ging, sagte sie Grigori, er habe keinen Grund, sich Sorgen zu machen. Dann, eines Tages, kam der Junge ins Zimmer, als Grigori sich ein Eishockeyspiel im Fernsehen anschaute. Zum allerersten Mal setzte er sich ohne zu fragen neben ihn und sah mit ihm fern. Bis dahin hatte er sich nie für Fernsehen interessiert und war eher ein Bücherwurm gewesen. Grigori hingegen hatten Bücher schon immer gelangweilt. Der Junge schaute sich jede einzelne Sekunde des Spiels an und hatte beinahe ein Lächeln auf den Lippen, als es zu Ende war.
    Am folgenden Tag brachte Grigori, einer Ahnung folgend, ein Paar Schlittschuhe, einen Schläger und einen Puck mit und fuhr mit dem Jungen zu einem der Teiche in der Nähe seines Hauses. Ohne ein Wort zog der Junge die Schlittschuhe an, band sie fachmännisch zu und umwickelte den Griff des Schlägers mit Klebeband, bevor er aufs Eis fuhr. In jenem Moment erkante Grigori, was dem Jungen in all den Monaten gefehlt hatte, seit er zu ihm gezogen war.
    Dann, nachdem er ihm etwa eine Stunde zugesehen hatte, hatte Grigori noch etwas anderes erkannt.
    Der Junge würde ein Superstar werden. Für jemanden, der noch so jung und, wie Grigori annahm, seit Monaten nicht auf dem Eis gewesen war, beherrschte Bold Novikov die eindrucksvollste Technik, die er je gesehen hatte – und dabei hatte der Junge nur seine Übungen absolviert.
    Anfangs war Grigori noch der Einzige, der es bemerkte. Auch als Zehnjähriger war Bold noch kleiner als die meisten anderen Jungen. Stiller, weniger verspielt. Grigori befürchtete, dass der Druck der anderen Kinder dazu führen würde, dass Bold aufgab, besonders, als sie anfingen, ihn »Fleck« zu nennen. Doch Grigori hätte es besser wissen müssen. Dieser Junge gab niemals auf. Bold war schon immer kleiner gewesen als die anderen Bären, mit denen er spielte, aber er hatte sich davon nie aufhalten lassen. Er

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