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Scharfe Pranken

Scharfe Pranken

Titel: Scharfe Pranken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: G. A. Aiken
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Marci Luntz verließ niemals die Stadt. Nicht, seit sie ihre Chefarztstelle im John Hopkins Hospital aufgegeben hatte und zurückgekehrt war. Um es mit ihren Worten auszudrücken: »Was gibt’s da draußen schon für mich? Vollmenschen? Hochnäsige Katzen und mürrische Wölfe? Vielen Dank, aber ich bleibe lieber hier.«
    Bo wandte seinen Blick von ihr ab und sah sich im Zimmer um. Er blickte zum Fenster hinaus auf das helle Licht der Morgensonne, das auf den Schnee und das Eis auf den Bäumen fiel. Bäume mit tiefen Furchen in den Stämmen: die jahrhundertealten Spuren der Bären.
    Er war wieder zurück. Zurück in der Stadt, in die er gezogen war, nachdem seine Eltern gestorben waren. In der Stadt, die er acht Jahre später wieder verlassen hatte.
    Er war wieder in Ursus County, Maine.
    Aber warum? Warum war er zurück? Und warum war er verletzt?
    Er sah auf seinen Arm hinunter. Er trug einen Gips, und der Schmerz der heilenden Knochen und Muskeln strahlte von seinem Arm in seinen ganzen Körper aus.
    Oh nein, sein Arm. Er hatte sich den Arm gebrochen. Wann? Wie? Und, viel wichtiger, würde er trotzdem noch spielen können?
    Bo wurde von einem Angstschauer erfasst, und die Tatsache, dass ihm gleichzeitig heiß und kalt war, machte alles nur noch schlimmer. Das Fieber. Er hatte Fieber. Er wusste, dass das etwas Gutes war. Das Fieber würde helfen, ihn zu heilen. Genau wie Dr.   Luntz.
    Er wandte ihr seinen Blick wieder zu. Sie lächelte. Es war dasselbe warme Lächeln, an das er sich noch so gut erinnerte. Bo konzentrierte sich darauf und fühlte sich sofort ruhiger und gefasster. Er wollte ihr Lächeln gerade erwidern, ein Bedürfnis, das er nur sehr selten bei jemandem verspürte, als Dr.   Luntz beiseitegeschoben wurde und sich ein großes, dickes, dämliches Gesicht, an das er sich ebenfalls nur allzu gut erinnerte, dicht vor seines schob. Zu dicht.
    »Fleck!«, brüllte es in Bos Gesicht. »Wie geht’s dir, Fleck? Wie fühlst du dich, Kumpel?« Der Eisbär betrachtete Bo von oben bis unten und grinste. »Wie ich sehe, hast du deinen Wachstumsschub inzwischen hinter dir, was? War auch verdammt noch mal an der Zeit, würd ich sagen. Hab ich nich’ recht, Junge?«
    »Fabi…«
    »Schon okay, Doc! Fleck ist mein Cousin, stimmt’s? Sie wissen doch, Fleck betet mich an! Hab ich nich’ recht, Fleck? Du betest deinen Cousin Fabi an, stimmt’s?«
    Äh … nein. Nein, Bo betete seinen Cousin nicht an. Wie immer, wenn er diesen Idioten sah, hätte Bo am liebsten auf ihn eingedroschen, als sei er ein Tennisball. Er konnte die Stimme, die ihm sagte, dass das nicht richtig gewesen wäre, jedoch beinahe hören. Er gehört zur Familie, beharrte die Stimme. Jeder braucht eine Familie!
    Er kannte diese Stimme … und diese lächerliche Gefühlsduselei. Blayne. Das war Blaynes Stimme.
    Blayne …
    Da sein rechter Arm eingegipst war und noch immer heilte, packte er Fabi Novikov mit der linken Hand an der Kehle und drückte so fest zu, dass seine Augen aus ihren Höhlen traten.
    Dr.   Luntz packte Bos Arm und versuchte, seinen Griff zu lösen. »Ich brauche Hilfe hier drin! Grigori! Irgendjemand! Sofort!«, schrie sie in Richtung Tür.
    Bo drückte sich ein Stück nach oben und zog Fabi dichter zu sich heran. »Wo ist sie?«, fragte er, und seine Stimme klang wie ein Krächzen, das seiner wunden Kehle mühevoll entrissen worden war. Der Schmerz hielt ihn jedoch nicht davon ab, Fabi nun ins Gesicht zu brüllen: »Wo ist Blayne?«
    Grigori steuerte durch den Flur auf das Zimmer seines Neffen zu. Dem Jungen ging es gut. Marci schien sich ziemlich sicher zu sein, dass er wieder ganz gesund werden würde, und Marci hätte ihn niemals angelogen, nicht einmal, wenn sie es gewollt hätte. Das Fieber hatte den Jungen ziemlich mitgenommen, aber das war zu erwarten gewesen. Bold hatte sich die ganze Nacht hin und her gewälzt, und sein mächtiger Körper hatte sich alle paar Minuten in Menschengestalt und wieder zurück verwandelt. Die Bettlaken waren völlig durchnässt gewesen, und sie hatten den Gips an seinem Arm zweimal wechseln müssen. Es war nicht leicht gewesen, ihm einen Gips anzupassen, nachdem er sich verwandelt hatte. Seine Eltern hatten ihm einiges mitgegeben, und er hatte daraus etwas ziemlich Neues und Einzigartiges gemacht.
    Grigori hatte nicht die Absicht gehabt, dem Jungen an diesem Morgen von der Seite zu weichen, aber Marci hatte ihn weggeschickt, damit er sich einen Kaffee und ein paar von diesen

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