Schatten Der Erinnerung
unhöflich gewesen war, machte er jetzt sogar den Versuch, sie zu trösten. Großer Gott, wie sehr sie Trost brauchte.
Bei diesem Gedanken verlor sie beinahe die Fassung. Sie wandte sich ab, damit er nicht sehen konnte, wie nahe sie wieder den Tränen war. Mehr als je zuvor benötigte sie jetzt ihre ganze Selbstbeherrschung. Wenn sie Slade gegenüberstand, durfte sie nicht weinen.
Auch schimpfen würde sie nicht. Gestern hatte sie sich wie ein billiges, zänkisches Weib aufgeführt. Mit überschlagender Stimme hatte sie Rick angeschrien, obwohl er für die Handlungsweise seines Sohnes nichts konnte. Heute aber würde sie besonnen und ruhig sein. Nur weil Slade nicht die geringsten moralischen Prinzipien besaß, beabsichtigte sie nicht sich auf sein Niveau herab zu begeben. Als wohlerzogene Dame würde sie ihre guten Manieren und ihre vornehme Haltung einsetzen, auch wenn es sie hart ankam, Aber sie musste sich so verhalten, denn sie durfte ihm nicht zeigen, wie sehr er sie verletzt hatte.
Regina brachte ein Lächeln als kleines Dankeschön für Edwards Zuwendung zuwege und sah dann zur Seite. Sie musste daran denken, dass sie nicht nur Rick gegenüber jeden Anstand verloren hatte. Tief beschämt zitterte sie jedes Mal, wenn sie an ihre Hochzeitsnacht und an ihr Benehmen dabei dachte - ihr hemmungsloses, leidenschaftliches und skandalöses Benehmen. Wenn sie nur einen Wunsch frei hätte, würde sie sich wünschen, dass es diese Nacht nie gegeben hätte. Slade hatte sie nur benutzt, aber bei ihr war es Liebe gewesen. Diese Liebe war auch ihre Entschuldigung dafür, dass sie all das unbeschreibliche Tun, zu dem er sie verleitet hatte, genossen hatte. Heute aber gab es keine Entschuldigung mehr für das Geschehene. Bei der bevorstehenden Begegnung würde auch er sich an ihr Verhalten erinnern. Allein schon der Gedanke daran war demütigend.
Es war ihr unbegreiflich, wie sie nur für einen Augenblick hatte glauben können, dass er sie ebenfalls liebte.
Derartig naiv würde sie niemals wieder sein.
Der Zug verlangsamte sein Tempo, da er bereits in den großen Bahnhof, eine Konstruktion aus Glas und Eisen, einfuhr. Durch die staubigen Fenster sah Regina einen Menschenschwarm. Überall waren Pendler unterwegs.
Männer dunklen Anzügen und flotten Hüten jagten hin und her, beeilten sich, um ihre Züge nach Hause zu bekommen - den eleganten, schnellen Owl, der nonstop durch das San-Joaquin-Tal nach Los Angeles fuhr, oder einen Nahverkehrszug nach San Jose oder Oakland. Reginas Herz schlug heftig, denn bald stand sie Slade gegenüber und konnte die Scheidung verlangen. Sie konnte es kaum erwarten.
In höchster Aufregung rutschte sie auf ihrem Sitz hin und her. Einerseits konnte sie es kaum erwarten, anderer seits hatte sie Angst. Mit Slade war nie etwas einfach, doch würde sie ihn dazu überreden, sich scheiden zu lassen.
Wenn sie ihm erst einmal klargemacht hatte, dass er ihr Geld nicht bekäme, würde er kein Interesse mehr an der Verbindung haben. Erst wenn er die Papiere unterzeichnet hatte, würde sie ihn darüber aufklären, dass sie Regina Bragg Shelton war. Denn sie wollte nicht, dass er vorher über das Ausmaß ihres Reichtums und ihrer Verbindungen Bescheid wusste.
Das bedeutete, sie musste sich beeilen. Sie hatte nicht vor. ihn heute abend zu treffen, sondern wollte zuerst zu ihrem Onkel Brett D'Archand, damit dieser morgen die Scheidungsunterlagen besorgen konnte. Brett war unglaublich, reich, was gleichbedeutend mit mächtig war. Sie würde Slade erst gegenübertreten, wenn sie die Papiere in der Hand hatte. Das war hoffentlich morgen Abend der Fall. Sie würde seine Unterschrift bekommen.
Sollte er es wagen, sie zu verweigern, hätte er einen Streit am Hals, den er nicht gewinnen konnte. Sie würde ihre Familie ins Spiel bringen und deren Macht gegen ihn einsetzen.
Obwohl er kein Quäntchen Mitgefühl verdiente, rutschte sie unbehaglich hin und her. Der Gedanke, wie leicht er durch die vereinten Bemühungen ihrer Onkel, ihres Vaters und Großvaters vernichtet werden konnte, war mehr als unangenehm. Sie musste sich selbst gegenüber ehrlich sein. Obwohl sie ihn wirklich verabscheute, wollte sie sich nicht an ihm rächen. Das brachte sie nicht übers Herz, denn dafür haßte sie ihn nicht genug. Sie musste die Scheidung selbst regeln. Irgendwie bedrückte sie der Gedanke, dass Slade allein gegen den Rest ihrer Familie stünde.
Edward hatte keine Ahnung von ihren Plänen. Sie war sich nicht einmal
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