Schatten Der Erinnerung
Obwohl sie es dabei belassen wollte, bemerkte sie: »Ich weiß nicht mal, in welcher Beziehung er zu Mr. Mann steht.«
Edward blickte sie nachdenklich an. »Mann nahm ihn auf, als er ein fünfzehnjähriger hoodlum war.«
Regina gab sich Mühe, kein Interesse zu zeigen, aber es gelang ihr nicht. »Was ist ein hoodlum?«
»Es gibt Banden, die die Straßen der Stadt nach Einbruch der Dunkelheit unsicher machen - und manchmal auch am Tag. Sie suchen sich meistens Chinesen als Opfer, manchmal aber auch andere Fremde. Seit der Depression hat es viel Ärger gegeben. Die Leute glauben, dass die Chinesen für die Depression und den Mangel an Jobs verantwortlich sind. Ich bezweifle, dass das stimmt.«
»Das ist traurig.«
»Ja, wirklich. Ich persönlich bin der Meinung, dass die Chinesen ein Gewinn für die Stadt sind, da sie hart arbeiten und viel leisten, aber ich würde eine derart unpopuläre Meinung nicht öffentlich kundtun. Wie auch immer, über die hoodlums brauchst du dir keine Sorgen zu machen, zumindest nicht solange du nicht allein am Abend nach Chinatown gehst.« Er blickte sie kurz mit seinem gewinnenden Lächeln an. »Nachdem Slade als junge von Miramar weggerannt war, kam er hierher. Er hatte kein Geld, lebte auf der Straße und schloss sich dann einer Bande an. Zum Glück beschlossen sie, Mann zu berauben. Mann ist ein interessanter Bursche, wie du noch feststellen wirst. Er ist jetzt um die Sechzig, war aber auch damals nicht mehr, ganz jung. Aber er ist gleichfalls auf der Straße aufgewachsen, allerdings in der East Side von New York City und. nicht in den finsteren Seitengassen von San Francisco. Er verjagte die Bande und griff sich Slade. So begann ihre Freundschaft.«
Regina wollte keine Neugier zeigen. Sie war unglaublich zornig auf ihren skrupellosen, unmoralischen Mann. De noch fühlte sie einen Hauch Mitgefühl für einen jungen, der so oft zurückgewiesen worden war, dass er von z Hause weglief und als hoodlum Zuflucht zum Leben auf der Straße genommen hatte. Gegen ihren Willen fragte sie:
»Was passierte dann?«
»Ich vermute, dass Mann das Gute in Slade gesehen hat. Vielleicht hat er ihn auch an seine eigene vergeudete Jugend erinnert. Statt ihn der Polizei zu übergeben, nahm er ihn mit nach Hause. Er gab ihm Unterkunft, Verpflegung und einen Job. Slade fing als Botenjunge an. Heute leitet er einen großen Teil von Manns Imperium.«
Regina blickte verständnislos. »Was macht Mr. Mann denn?«
»Er hat sein Geld mit Comstock während des Silberrausches Ende der fünfziger, Anfang der sechziger Jahre verdient. Und er war so schlau, alles vor dem Zusammenbruch zu verkaufen. Außerdem hat er sein Geld auch nicht gehamstert. So gehörte ihm während der Jahre des Silberbooms halb Virginia City. Jetzt besitzt er das Mann Grande Hotel, nach dem Ralston Palace Hotel das zweite Haus am Platz, ferner die Nicasio-Ranch, die größte Ranch in Marin, und vermutlich zehn Prozent der Grundstücke dieser Stadt. Ich habe gehört, dass er groß in den Octopus investiert hat.«
»Octopus?« fragte Regina schwach. War Slade die rechte Hand dieses mächtigen Unternehmers?
»Die Southern-Pacific-Eisenbahngesellschaft wird liebevoll - oder auch nicht so liebevoll - Octopus genannt. Ihr gehört der größte Teil der Transporteinrichtungen des Staates, Tausende Meilen Schienen, Millionen Hektar Land.
Sie hat einen ziemlich starken Einfluss auf die Politik des Staates.« Er lächelte trocken. »Damit untertreibe ich noch, Regina. Wie auch immer, Charles Mann ist eine bedeutende Persönlichkeit und einer der reichsten Männer von San Francisco.«
Regina sagte nichts, aber sie war jetzt noch zorniger. Was fiel Slade nur ein! Er führte sich auf, als wäre er noch immer einer dieser hoodlums, dabei traf das ganz und gar nicht zu. Warum nur bemühte er sich so, sich als heruntergekommener Rebell zu geben, obwohl er doch in Wahrheit ein angesehener Geschäftsmann war?
Edward schien ihre Gedanken zu lesen. »Wenn Slade heimkommt, streift er sein wirkliches Leben ab wie eine Schlange ihre Winterhaut. Du könntest Schwierigkeiten haben, ihn zu erkennen, Regina.«
»Das besagt nichts«, meinte sie brüsk. »Ehrlich gesagt, von mir aus könnte er Charles Mann persönlich sein.«
Edward zuckte zusammen.
»Wir sind da«, sagte Regina, als sie das Haus ihres Onkels erkannte. Während Edward den Kutscher bezahlte, stieg Regina, zitternd vor Erleichterung, aus. Bretts Haus tat sich wie ein unvorhergesehener, höchst
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