Schatten Der Erinnerung
Osten war der Himmel langsam grau geworden. Dann hatte er plötzlich rosa geleuchtet und ein brennender orangeroter Ball stieg hinter weizengelben Bergen auf. Viele Minuten lang war der leinwandfarbene Himmel mit den Regenbogenfarben rosa, grün und gelbrot überzogen. Es sah so aus, als ob ein ausgelassener Maler mit wildem Pinselstrich darübergefahren wäre.
Die Farben wirkten so lebendig, dass es Regina den Atem verschlagen hatte. Mit Vogelgezwitscher war der Morgen zum Leben erwacht.
Den größten Teil der Nacht hatte sich Regina hin- und her gewälzt. Bis zu ihrer Hochzeit waren es nur noch drei Tage. Beim Zubettgehen hatte sie sich noch über den Eindringling Sorgen gemacht und sich gefragt was der Einbruch bedeuten sollte. Bald aber hatte sie den Diebstahl ihres Medaillons vergessen und sich an Slades Versprechen, an seine Loyalitätserklärung erinnert. Ihre Gedanken waren angefüllt mit seinem Bild und beschäftigten sich mit ihren Zukunftsaussichten. Alles wirkte verheißungsvoll.
Slade würde ihr beim Austausch des Eheversprechens tief in die Augen sehen, sie dann in seine Arme nehmen und mit einer Leidenschaft küssen, die sie bisher nur aus Büchern kannte. Später, wenn sie allein wären, würde er ihr sagen, dass er sie liebe, seit er sie das erste Mal gesehen habe - noch bevor er sie in Entzücken versetzen würde.
Regina schalt sich, närrisch wie ein verträumtes junges Mädchen zu sein. Aber ihr Herz sehnte sich so nach der Erfüllung ihrer Träume, dass sie einfach wusste, sie würden wahr werden.
Regina hatte oft von Bräuten gehört, die vor ihrer Hochzeit so nervös waren, dass sie sich alles am liebsten nochmals überlegt hätten. Sie dagegen heiratete einen Fremden, litt unter Amnesie, seine Familie erschreckte sie manchmal, und dennoch zögerte sie nicht. Sie konnte den Sonntag, ihren Hochzeitstag, kaum abwarten.
Die Vorstellung nahm ihr den Atem. Slade leuchtete ihr den Weg wie ein Leuchtfeuer einem verirrten, vom Wind gebeutelten Schiff in dunkler und stürmischer See.
Natürlich stellte sie sich vor, wie sie in der Kirche durch den Gang schritt. An dessen Ende würde Slade sie erwarten, prachtvoll gekleidet in einen schwarzen Frack. Ihr Kleid war der Traum einer jeden Braut.
Maßgeschneidert von Worth oder Paquin, das Oberteil aus zartester, mit Perlen übersäter Spitze. Die üppigen Röcke aus wogendem Tüll und mit funkelnden Diamanten besetzt Regina unterbrach sich und runzelte die Stirn.
Wo war ihr Hochzeitskleid?
Sie erstarrte. In drei Tagen, am kommenden Sonntag, war ihre Hochzeit. Sie hatte ihr ganzes Gepäck durchgesehen.
Unter ihren Sachen befand sich kein Hochzeitskleid Das wusste sie genau.
Fassungslos ließ sie sich auf einen Stuhl fallen. Heute war Donnerstag, am Sonntag heiratete sie, und sie besaß kein Hochzeitskleid.
Es muss separat geschickt worden sein, dachte sie sofort. Aber das war so riskant, dass es geradezu töricht erschien.
Denn ginge der Koffer verloren, wie es ja offensichtlich geschehen war, dann säße sie in der Klemme. Aber vielleicht hatte es keine andere Wahl gegeben, vielleicht war das Kleid noch nicht ganz fertig gewesen, als sie aus London abgereist war. Oder es gab weitere Koffer, die in der Verwirrung verlorengegangen waren, als ihr Zug in Templeton ohne sie angekommen war.
Dann wurde ihr bewusst, dass auch ihre Brautausstattung fehlte.
Regina hielt den Atem an. Bedeutete das, dass zwei Koffer nicht angekommen waren? Ein Brautkleid würde sicher so sorgfältig verpackt werden, dass es einen ganzen Koffer für sich allein beanspruchte. Aber es gab keinen Grund, ihre Brautausstattung gesondert zu verschicken, außer sie wäre schon vor ihrem Abreisedatum fertig gewesen.
Aber traf das nicht auch auf ihr Hochzeitskleid zu? Ihr Herz begann heftig zu hämmern. Seit fünf Jahren war sie verlobt. Seit fünf Jahren kannte sie das Datum ihrer Hochzeit. Bei einer derart langen Verlobungszeit wartete man mit dem Hochzeitskleid doch nicht bis zur letzten Minute. Natürlich war das Kleid fertig gewesen. Es gab absolut keinen Grund, es separat zu schicken.
Aber warum befand es sich dann nicht unter ihren Sachen?
Weil es noch am Bahnhof von Templeton war, sagte sie sich mit aufsteigender Furcht. Sie bedeckte ihr Gesicht mit den Händen und zitterte. Sie wollte nicht auf die geisterhafte Stimme in ihrem Inneren hören, die auf einer anderen Möglichkeit bestand, die in Erwägung zu ziehen sie sich weigerte.
Und wenn sie gar nicht Elizabeth
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