Schatten der Gegenwart (Für Immer & Länger)
war es ein Auge, dann ein
Teil seiner Lippen, seine Nasenspitze – doch niemals war er vollständig,
komplett, wahrhaftig. Die Bilder waren nicht zerstört, doch sie weigerten sich
strikt, sich an Robert zu erinnern. Sie hatten vergessen, wie er aussah.
Erschöpft rieb ich mir die Augen. Ich
hatte Gewissheit gewollt und im Grunde hatte ich sie bekommen. Er war da
gewesen. Er hatte sein Leben mit mir geteilt und seine Haare waren braun und
wellig.
Doch ich wollte mehr. Ich wollte ihn
endlich sehen . Ich wollte ihn bei mir haben.
»So einfach kommst du mir nicht davon«,
raunte ich und holte mir Stift und Papier. Ich versuchte ein Gesicht zu
skizzieren. Ich konnte nicht wirklich gut zeichnen, aber um das Abbild eines Gesichtes
anzudeuten, reichte es allemal.
Wieder ging ich jede Datei durch und
wann immer ich einen Teil von seinem Gesicht richtig erkennen konnte, markierte
ich diese Stelle auf meinem Skizzengesicht mit einem hellgrünen Textmarker.
Datei um Datei wurde das Bild immer klarer bis sich schließlich auf meinem
Blatt keine einzige weiße Stelle mehr zeigt. Alles war hellgrün.
Alle verwertbaren Dateien jagte ich
durch den Drucker. Ungeduldig tigerte ich im Arbeitszimmer auf und ab und
lauschte den surrenden Geräuschen der Maschine, wie sie ein Blatt nach dem anderen
ausspukte. Ich nahm eine Schere und schnitt die unbrauchbaren Teile weg. Der
Berg abgeschnittener Papierfetzen vor meinen Füßen wurde immer größer.
Ich brauchte Platz, wenn ich dieses
riesige Puzzle zusammensetzen wollte. Die größte freie Fläche hatte ich in der
Küche und so schnappte ich mir die letzten Ausdrucke und begab mich auf meinen
Küchenboden. Stück um Stück, Fetzen um Fetzen setzte ich sein Gesicht zusammen.
Es war alles etwas verschoben, mal hatten die Bilder einen warmen Gelbton, mal
war es ein dunkler Ausschnitt, aber das war mir egal. Immer wieder musste ich
neue Ausdrucke machen, in denen ich den benötigten Bildausschnitt vergrößerte,
damit er auch zum Rest passte.
Ich wollte ihn sehen, komplett und
vergaß dabei Raum und Zeit.
Auf dem Boden kämpfte sich ein
Lichtstrahl entlang und als er die linke obere Ecke meines Puzzles berührte,
blickte ich zum ersten Mal seit meinem Besuch bei Harry und Larry auf die Uhr.
Es war bereits früher Morgen, halb
sechs. Die ganze Nacht hatte ich kniend auf dem Küchenboden verbracht und die
vergangenen Stunden waren unbemerkt an mir vorbeigezogen. Aber es hatte sich
gelohnt. Da lag er, direkt vor mir – Robert. Sein Gesicht, seine wachsamen
Augen, sein schiefes Lächeln, seine gerunzelte Stirn, seine braunen und
chaotischen Haare.
Zaghaft berührten meine Finger das Mosaik.
Ich strich ihm über die rechte Wange, berührte seine Lippen, sah ihm in die
Augen.
Da war er. Der einzige Mensch in
meinem Leben, dem ich mich vollkommen geöffnet hatte. Der wusste, was ich dachte,
noch bevor ich den Mund aufgemachte. Der Mensch, bei dem ich nicht stark sein
musste und der es ertrug, wenn ich zweistündige Monologe hielt.
Nie hatte ich mich bei ihm verstellen
müssen. Er hätte es sowieso sofort bemerkt. Er war einfach er und ich war
einfach ich – simpel und doch viel komplexer, als das man es hätte in Worte
fassen können.
Und er war fort. Mein Deckel, der
mich vor dem Überkochen bewahrte. Mein Ruhepol, wenn das Chaos herrschte. Mein
Anker, wenn das Lebensmeer mich drohte zu verschlingen. Mein Lachen, wenn ich
weinte. Mein Ernst, wenn ich albern war.
Er war fort.
Kapitel 28
November – vor fünf Jahren
Mein Herz schlug mir bis zum Hals.
Ich würde keinen einzigen Ton heraus bekommen. Die Menschen vor mir waren kaum
auszumachen. Zu sehr war ich von den aufgestellten Scheinwerfern geblendet, die
nun vollkommen auf mich gerichtet waren. Ich hörte, wie hinter mir die Drumsticks
aufeinanderschlugen, wie der Takt durch mein Blut pulsierte und wie die Musik
ertönte.
Ich schloss die Augen, überließ den umherfliegenden
Tönen das Denken und begann zu singen. Wie von selbst verließen die Wörter
meine Lippen. Es war so selbstverständlich wie atmen. Ich spürte, wie die Kraft
und Emotionen meinen Körper durchfuhren und konnte dabei kaum auf meinem Hocker
sitzen bleiben.
Wir hatten uns darüber verständigt,
eine bodenständige und einfache Band zu sein. Kein wildes Herumgetanze, keine
einstudierten Choreografien, einfach nur die Musik und wir.
Aber ich konnte nicht ruhig
herumsitzen, während die Klänge von mir Besitz ergriffen. Ich löste mich aus
dem
Weitere Kostenlose Bücher