Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schatten der Gegenwart (Für Immer & Länger)

Schatten der Gegenwart (Für Immer & Länger)

Titel: Schatten der Gegenwart (Für Immer & Länger) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maria Norda
Vom Netzwerk:
immer gab und immer geben würde. Menschen
starben, wir alle taten das. Es war normal. Zumindest hatte ich das bisher
immer so empfunden.
    Nun, in dem Moment, in dem ich Teil
dieses Reigens geworden war, war jegliche Normalität erloschen. Hinter jedem
dieser Namen stand eine Geschichte, ein Leben, ein Mensch. Und doch war es
genau unsere Aufgabe, diese Geschichte zu beenden und die letzten Zeilen zu
schreiben.
    Stundenlang saß ich nun schon so da
und versuchte zu sehen, was Richard sah, was er neben dem Offensichtlichen
ausmachen konnte. Seit zwei Tagen hatte er sich nach einem scheinbar flüchtigen
Blick auf die Liste in seinem Zimmer eingeschlossen und seither hatte keiner
von uns ihn mehr zu Gesicht bekommen. Jeder von uns besaß in der alten Villa
einen eigenen Bereich, persönlich und von den anderen abgetrennt. Das einzige
Stück Privatsphäre, das uns in dieser Welt noch geblieben war. So wie ich nun
in meinem Zimmer darüber grübelte, was es wohl mit alledem auf sich hatte, so
hatte Richard sich in seinem Reich verschanzt.
    Es war nicht das erste Mal, dass er
so etwas tat, hatte Ria mir anvertraut. In solchen Momenten sollte man ihn
lieber nicht stören. Es hatte sowieso keinen Sinn, denn wann immer man Richard
begegnete, sagte er nichts. Und erst wenn er entschied, dass es an der Zeit
war, weihte er uns in seine Pläne ein.
    Es machte mich fast wahnsinnig. Wir
waren machtlos, hilflos – auf die Gedanken eines alten und verbitterter
werdenden Mannes angewiesen.
    Also versuchte ich selbst hinter das
stille Geheimnis der Liste zu kommen und das zu sehen, was er sah. Immer wieder
starrte ich die blassen Schriftzeichen an und bemühte mich zu ergründen, welche
tiefere Bedeutung in ihnen wohnte. Doch es waren nur Namen die kamen und
gingen. Nichts weiter als eine chaotische Abfolge von Lebensläufen.
    Die Ränder des Pergaments waren
bereits leicht wellig von meinem Schweiß, so lange schon versuchte ich die
geheime Botschaft zu entziffern. Wenn ich so weiter machte, könnte man bald die
Anfangsbuchstaben nicht mehr lesen, so angegriffen war das Papier bereits.
    Die Tür zu meinem Zimmer wurde rüde
aufgestoßen und krachte scheppernd gegen die daneben befindliche Wand.
    Ich wollte bereits einen Schwall an
Schimpfworten produzieren, schließlich respektierte auch ich ihre Privatsphäre,
aber so weit kam ich nicht. Der angestrengte Gesichtsausdruck von Richard, auf
dessen Stirn sich tiefe Sorgenfalten abzeichneten, unterband jedes Wort.
    »Pack zusammen. In fünfzehn Minuten
brechen wir auf«, rief er mir entgegen und war während er sprach bereits auf
dem Weg, den anderen Bescheid zu geben.
    Er hatte es also wieder geschafft.
Während ich stundenlang nichts erkannt hatte, war er auf die Spur gestoßen, die
sich so gekonnt vor mir versteckt hatte. Ich wusste nicht was in diesem Moment
überwog, der Zorn über meine eigene Unzulänglichkeit oder die Anerkennung über
seine Entdeckung.
    Ich war ein Meister darin, hinter die
Fassade von Menschen zu blicken. Wie ein offenes Buch zeigten sich ihre wahren
Empfindungen vor meinen Augen. Emilia konnte es nicht, Ria erst recht nicht und
bei Richard war es ebenfalls nichts anderes. Sie konnten andere belügen,
vielleicht sogar manchmal sich selbst, aber nicht mich.
    Aber einem dummen Blatt Papier seine
Geschichte zu entlocken gelang mir natürlich nicht.
    Ich suchte meine beiden Schuhe zusammen,
die kreuz und quer im Raum verteilt lagen. Meine Hose hatte immer noch leichte
Schmauchspuren an den Kanten. Mir hatte das Feuer zwar nichts anhaben können,
meinen Sachen allerdings erging es weniger glimpflich. Dem Ledermantel, den ich
als Letztes anlegte, hing immer noch der Gestank von geschmolzenem Plastik,
rußendem Holz und verkohltem Fleisch an.
    Aber es war keine Zeit mehr, diesen
Umstand zu ändern. In fünfzehn Minuten würde ich kaum eine Grundreinigung
zustande bringen. Ich musste mich damit abfinden und versuchte konzentriert
durch den Mund zu atmen, um mir mit jedem Atemzug einzuschärfen, was ich nach
meiner Rückkehr als Erstes zu tun hatte.
    Als ich in der Eingangshalle ankam,
waren Ria und Johann bereits zur Stelle und abmarschbereit. Wie zur Hölle
machten sie das nur? Sie wurden doch schließlich später als ich von Richard
informiert. Oder hatten sie bereits auf gepackten Sachen gesessen, weil sie
wussten, dass der Befehl jeden Moment ausgerufen werden würde.
    Mit schnellen Schritten kam Richard
im gleichen Augenblick die Treppe heruntergerannt. Er war

Weitere Kostenlose Bücher