Schatten der Gegenwart (Für Immer & Länger)
die Störung, aber ich wollte Ihnen nur Bescheid geben, dass ich meinen
Urlaub bis Ende der Woche verlängern werde. Danke für ihr Verständnis. Bis
nächste Woche dann.«
Ich ging raus in den noch immer
strömenden Regen und setzte mich in mein Auto. Ich wendete und fuhr zurück auf
die Autobahn, aber nicht in Richtung Leipzig, sondern nach Hamburg.
Kapitel 25
Ich fuhr die ganze Nacht durch. Das
Wetter hatte sich nicht gebessert und es ging nur schleichend voran. Als die
Sonne gerade dabei war, ihren schwachen Schein über den Horizont zu schieben,
passierte ich das Ortseingangsschild von Hamburg.
Seit einem halben Jahr hatte ich ihn
nicht mehr besucht und nun, in der Zeit des Vergessens, suchte ich ausgerechnet
seine Nähe – die Nähe meines an Alzheimer erkrankten Vaters, der dazu verdammt
war zu vergessen.
Ich hielt an einer Bäckerei an, die
gerade dabei war zu öffnen und beschloss, erst einmal zu frühstücken. Um diese
Uhrzeit würden sie mich eh noch nicht zu ihm lassen.
Zwei noch dampfende Brötchen, ein
Töpfchen mit Marmelade und ein Milchkaffee, es fühlte sich an, als wäre es die
erste richtige Mahlzeit seit Tagen und zum ersten Mal seit Roberts Abschied,
zog sich mein Magen nicht rebellierend zusammen.
»Möchten Sie auch noch ein Stück
Kuchen?«, fragte mich die Verkäuferin hinter dem Tresen, als sie beobachtete,
wie ich ausgehungert die Brötchen verschlang.
»Das wäre sehr nett«, antwortete ich
mit halbvollem Mund.
Nachdem ich mir den Bauch
vollgeschlagen hatte, blickte ich gedankenverloren aus dem Fenster. Bis zu ihm
würde ich wohl nochmals eine gute Stunde unterwegs sein. Dann wäre es um neun
Uhr. Ob er da schon Besuch empfangen durfte? Gab es dort genauso strenge
Besuchszeiten wie in einem Krankenhaus?
Mein Vater hatte mir einen Monat nach
meiner Hochzeit eröffnet, dass er in dieses Pflegeheim ziehen würde. Er litt an
Alzheimer und er wolle mir nicht zur Last fallen, wie er selbst gesagt hatte.
Er war im Alter von 52 Jahren erkrankt. Normalerweise betraf es Menschen, die
das 65. Lebensjahr schon hinter sich gelassen hatten.
Doch er hatte den Mittelpunkt seines
Lebens verloren, als meine Mutter gestorben war. Nach ihrem Tod war er nicht
mehr derselbe gewesen. Er wollte nicht direkt sterben, aber er kämpfte nicht
mehr. Mein Vater hatte sich aufgegeben und als ich schließlich geheiratet
hatte, breitete sich die Krankheit immer schneller in ihm aus. Die Ärzte
konnten sich diesen drastischen Verlauf kaum erklären.
Ich verstand ihn nun besser denn je.
Ich wusste, was er fühlte, denn es widerfuhr auch mir.
Er hatte beschlossen, sich selbst in
ein Pflegeheim einweisen zu lassen. Doch da er offiziell noch nicht so krank war, dass es gerechtfertigt gewesen wäre, wiesen ihn die meisten Häuser
ab. Erst in Hamburg, in einer Einrichtung in privater Trägerschaft, wurde er
schließlich aufgenommen und war mit einem einzigen Koffer eingezogen. Mehr
hatte er nicht mitgenommen. Alles andere würde ihn nur an meine Mutter
erinnern, hatte er mir erklärt. Vielleicht gelinge es ihm ja bald, sie zu
vergessen.
* * *
Die Senioren-Residenz lag direkt an
der Alster und war umgeben von einer gepflegten Parkanlage. Auf dem Weg zum
Eingangsportal begegnete ich mehreren Bewohnern, teils im Rollstuhl, teils auf
Krücken, aber immer mit einer fürsorglichen Pflegekraft an ihrer Seite.
Es hatte nichts mit den
schockierenden Berichten im Fernsehen über die Service-Wüste Altersheim gemein.
Hier wurde den Menschen die nötige Aufmerksamkeit zuteil. Aber es war eben auch
ein privates Haus und die Gebühren verlangten geradezu danach, dass man hier
voll umsorgt wurde. Wie viel mein Vater für seinen Aufenthalt tatsächlich
bezahlte, hatte er mir nie gesagt. Er trug die Kosten allein, wie auch immer er
es machte.
Der Empfangsbereich war freundlich
gestaltet und überall standen frische Blumen. Ich trat an den Tresen und
meldete meinen Besuch an.
»Irre ich mich oder ist dies Ihr
erster Besuch?«, fragte die Damen an der Rezeption, als sie mir ein Buch überreichte,
in dem jeder Besucher unterschreiben musste.
»Nein, Sie haben Recht. Ich hatte es
bisher nicht geschafft. Ich meine, ich konnte nicht. Ich…«, begann ich auf der
Suche nach einer triftigen Erklärung zu stottern und setzte meine Unterschrift
in die richtige Zeile.
»Vor mir brauchen Sie sich nicht zu
rechtfertigen. Herr Dryker wird sich sicherlich über Ihren Besuch von Herzen
freuen. Er bewohnt Zimmer 385. Nehmen Sie den
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