Schatten der Vergangenheit (Junge Liebe) (German Edition)
übergezogen bekam. Ausgerechnet an Weihnachten, als ich ihm nämlich heimlich aus unserem Wohnzimmer hinaus hinters Haus gefolgt bin, in der Annahme, er sei der echte Weihnachtsmann, bei dem ich meine dinglichen Wünsche persönlich loswerden könnte.
Dort draußen habe ich ihn mit unserer Nachbarin, Frau Schönfeld, knutschen sehen. Was er logischerweise nicht wirklich toll fand. Ich natürlich auch nicht, in mehrfacher Hinsicht. Zum einen, weil ich dachte, die schreckliche Frau Schönfeld, die Kinder nicht ausstehen konnte und vor deren Haus jeder die Straßenseite gewechselt hat, weil sie manches Mal grundlos wie eine Furie auf Kinder losging, würde jetzt meine neue Mami werden und zum anderen, weil mein werter Vater sich dem Glauben hingab, ein paar Schläge mit seinem Ledergürtel würden mir die Bilder von ihm und unserer ekligen Nachbarin schon aus dem Gedächtnis treiben. Das er sie damit eigentlich eher manifestiert hat, war ihm nicht so wichtig.
Aber Frau Schönfeld zog im nächsten Sommer fort und zumindest die Angst, sie als meine Mami ertragen zu müssen, hatte sich somit erledigt. Nicht der unbewusste Zwang, in jeder anderen Frau eine Gefahr für mich und meine Mama zu sehen. Und vielleicht war genau das der eigentliche Grund, warum ich schon ziemlich frühzeitig gegen meinen Vater rebelliert habe, wann immer ich konnte, was meine Mum bis heute nicht versteht, oder einfach nicht erkennen will. Sie toleriert es all die Jahre und ich habe mit der Zeit einfach gelernt, alles, was meinen Erzeuger betrifft, nicht mehr an mich heranzulassen. Keinen Schlag, keine Beleidigung, keine noch so abstrusen Verbote.
Nur mit einer Sache hatte er mich, als ich gerade sechzehn wurde, bitter getroffen. Als er mir, bei Kaffee und Kuchen, in den schillerndsten Ausführungen erzählte, dass er meinen besten Freund Marc dabei erwischt habe, wie er die kleine Rothaarige vom Nachbardorf im Auto seiner Schwester gevögelt hätte und dass ich mir an ihm doch gefälligst mal ein Beispiel nehmen soll, wie sich ein Mann zu verhalten hat und von Marc wenigstens noch etwas lernen könnte.
„Nun mach ihn schon auf“, drängelt Bea ungeduldig, wie schon erwähnt, und reißt mich zum Glück so aus meinen Gedanken, die ich gerade jetzt ganz und gar nicht gebrauchen kann und die mich nur noch mehr verunsichern, was Marc angeht, als ich ohnehin schon bin.
„Nein“, antworte ich ihr daher auch bestimmt und werfe den Brief auf den Tisch zu den Werbeprospekten und Zeitungen, ohne jedoch meinen Blick davon zu lösen und mich unaufhörlich zu fragen, was sie für einen Grund hat, mir plötzlich zu schreiben. Wo angeblich sechs Jahre lang keiner wusste, wohin ich verschwunden war.
„Dann mach ich das“, schnellt Bea so flink an mir vorbei, dass ich nicht zügig genug reagieren kann und reißt den Brief auf, bevor ich überhaupt meine langen Beine vom Tisch bekomme, die mir gerade mal gehörig im Weg sind und funkle Bea daher einfach nur böse an. Weil sie sich natürlich nicht einfach nur damit zufrieden gibt, den Inhalt des Schreibens zu kennen, sondern mir auch gleich mitteilen muss.
Mein lieber Jammy! (ja ich weiß, du magst es nicht mehr hören, aber du kannst dich ja gerade schließlich nicht wehren )
Wie fange ich am besten einen Brief an, den du schon vor sechs Jahren hättest bekommen sollen, ohne dass es wie eine fadenscheinige, billige Ausrede klingt, warum du ihn erst jetzt bekommst?
Ehrlich gesagt, kann ich es dir nicht genau erklären. Weil es keine Entschuldigung dafür gibt, dass wir dir dein plötzliches Verschwinden damals einfach so haben durchgehen lassen und außer Marc niemand wirklich etwas versucht hat, um dich ausfindig zu machen.
Dass er nicht sonderlich erfolgreich war, musst du ihm nachsehen, weil er einfach nur ein verletzter pubertierender Junge war, der sich von seinem besten Freund belogen und betrogen fühlte. Dennoch hat er mehr versucht, als du vielleicht ahnst oder dir vorstellen kannst. Auch wenn es ziemlich unsinnig und aussichtslos war, doch er hat es mit solcher Leidenschaft betrieben, dass wir alle dachten, er würde dich bis an sein Lebensende suchen.
Dass er seine Suche damals so abrupt abbrach, nachdem er, wie du weißt, ein Telefonat deiner Mutter mit dir belauscht hatte, hat uns alle gleichermaßen überrascht wie auch beruhigt. Auch wenn es für dich jetzt ziemlich hart klingt, aber wir hatten wirklich Angst, Marc würde an der Suche nach dir kaputtgehen und waren daher umso
Weitere Kostenlose Bücher