Schatten Der Versuchung
rückgängig!«
Er seufzte leise. »Das kann ich nicht.«
»Ich hätte dich im Wald verbluten oder in der Sonne verbrennen lassen sollen.«
»Du konntest es nicht. Du wolltest mich nicht mitnehmen, aber du konntest mich nicht zurücklassen. Das ist die Wahrheit.« Seine Stimme war sanft, doch sie empfand seine Worte als Tadel.
»Ich schulde dir gar nichts! Ich habe dich nicht gebeten, dich einzumischen, und ich wäre gar nicht erst verletzt worden, wenn du nicht so laut geheult hättest, dass man dich überall hören konnte.« Ihr Herz schlug so wild, dass sie Angst hatte, es könnte bersten. Sie hatte gegen Vampire gekämpft, und doch machte ihr dieser Mann, der gefesselt war und völlig regungslos auf dem Bett lag, auf eine Weise Angst, die sie nicht einmal annähernd verstehen konnte. Ihre Lungen brannten, und ihre Kehle fühlte sich wund an.
Plötzlich begriff sie. Sie hatte keine Angst vor ihm, sie hatte Angst um ihn. Sie fürchtete, die Macht und der Zorn in ihrem Inneren könnten eine explosive Mischung ergeben. Die entfesselte Tigerin könnte Dinge anrichten, die sie nie wiedergutmachen könnte. Aber trotzdem würde sie sich von diesem Mann nicht einsperren lassen. Von niemandem. Falls ... falls sie je einen Gefährten wollte, würde es ihre eigene Entscheidung sein.
Natalya zwang Luft in ihre Lungen, zwang ihr Herz, wieder normal zu schlagen. Das dunkle Blut der Magier floss sehr stark in ihr. Sie konnte aufheben, was Vikirnoff bewirkt hatte. In all den Jahren des Lernens hatte kein anderer geschafft, was sie geleistet hatte. Trotzdem würde sie nicht so tief sinken, einen hilflosen Mann zu ermorden.
»Was du getan hast, war falsch, Vikirnoff. Welche Gründe du auch haben magst, sie sind nicht gut genug, um zu rechtfertigen, dass du mir meine Freiheit nimmst.« Als sie zu ihm schaute und seine dunklen Augen sah, die so von Schmerz erfüllt waren, erkannte sie, dass die ungeheure Anziehungskraft zwischen ihnen so stark geworden war, dass sie ihre Empfindungen nicht mehr von seinen unterscheiden konnte. Es war fast so, als würden sie einander und jedem ihrer Gefühle, von Zorn bis Leidenschaft, in einer langen, atemberaubenden Achterbahnfahrt neue Nahrung geben. Er wirkte ruhig, aber wenn sie an sein Bewusstsein rührte, merkte sie, dass er alles genauso intensiv empfand wie sie. Und seine Verwirrung reichte ebenso tief wie ihre.
Sie streckte ihr Kinn vor. »Ich will im Moment nicht weiter darüber diskutieren. Das führt zu nichts.« Und das war wahr. Sie hatte Vertrauen in sich. Vikirnoff wusste nicht, wie stark sie war, aber sie wusste es. Sie war überzeugt, dass ihr mit der Zeit ein Gegenzauber einfallen würde, wenn ihr erst einmal der genaue Wortlaut seiner Formel bekannt war. Er hatte ihr nur eine grobe Übersetzung gegeben, doch sie würde sich anhand dessen, was er gesagt hatte, alles zusammenreimen.
»Natalya«, begann Vikirnoff. Er hatte keine Ahnung, warum er versuchte, sich zu entschuldigen oder auch nur sein Bedauern zum Ausdruck zu bringen. Er hatte sie erzürnt, aber es war ganz natürlich, dass er sie am Gehen hinderte. »Ich bin weder ein Mensch noch ein Magier. Meine Spezies hat Instinkte, denen sie gerecht werden muss.«
»Du hattest eine Wahl, Vikirnoff. Rede dich nicht damit heraus, dein Handeln wäre vom Instinkt bestimmt gewesen. Du bist ein denkendes Wesen. Ich wollte etwas tun, was dir falsch erschien, und du hast mich aufgehalten. Das bedeutet, dass du mir deinen Willen aufgezwungen hast, ob du es nun so sehen willst oder nicht.«
Er runzelte die Stirn. »Und mich zu fesseln und mit einem Zauber zu binden, war etwas anderes ? Heißt das nicht, dass du mir deinen Willen aufgezwungen hast? Ich hätte dich nie ohne deine Zustimmung an mich gebunden, wenn du nicht beschlossen hättest zu gehen.«
Plötzlich spürten beide, wie die Erde bebte, und einen Moment lang herrschte Schweigen. Natalya warf Vikirnoff einen vielsagenden Blick zu. »Die Sonne ist untergegangen.«
»Ja, und die Erde protestiert, weil die Vampire sich erheben. Ich fühle die Gegenwart von mehr als einem Untoten.« Vikirnoff setzte sich vorsichtig auf.
Als hätte es nie eine magische Fessel gegeben. »Als hätte ich zehn Minuten damit verbracht, nichts zu tun.« Sie sah zu, wie die Handschellen von seinen Handgelenken glitten und auf den Boden fielen, und schüttelte den Kopf. Was für einen Sinn hatte es schon, in Wut zu geraten? Sie hätte wissen müssen, dass er nicht so leicht zu unterwerfen war.
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