Schatten des Wahns: Stachelmanns dritter Fall (German Edition)
ihm hätte helfen können, die Identität dieses Mannes zu klären. Nein, es blieb nur die Frau.
Er druckte den Brief an Regine aus, steckte ihn in einen Umschlag und packte vier Kopien dazu, falls sie jemanden kannte, an den sie diese Fotos weitergeben wollte. Dann suchte er in seinem Adressbuch nach Manfred, Uschi und Katharina. Den dreien schrieb er gleich lautende Briefe, in denen neben Grüßen nur stand, sie sollten sich melden, falls sie die Frau auf dem Foto gekannt haben sollten. Es eile sehr.
Dann frankierte er die Briefe und legte sie an die Seite. Am Abend würde er sie in den Briefkasten werfen. Bis dahin wollte er noch einiges schaffen, und tatsächlich kam er flott voran. Hin und wieder dachte er an Kippers Anzeige. Eine Geldstrafe, na und? Sollte es ihm aber gelingen, den Fall zu lösen, und Kipper war doch irgendwie verstrickt, und wenn auch nur am Rand, dann würde er gewiss straflos davonkommen. Nein, mit so etwas konnte man ihn nicht einschüchtern. Außerdem, der Anwalt hatte ihn anzeigen müssen, sonst wäre es einem Eingeständnis gleichgekommen, trotz aller Ausreden verwickelt zu sein in die Thingstättensache und dadurch in den Mord an Ossi. Jawohl, den Mord.
Aber bis die Briefe ihre Empfänger erreicht hatten, konnte er nichts tun. Außer zu arbeiten. Als die Dämmerung anbrach, saß er immer noch an seinem Computer.
Es klopfte an der Tür, gleichzeitig öffnete sie sich. Renate Breuer ließ ihre Absätze auf dem Boden klacken und legte Stachelmann ein Papier auf den Schreibtisch. »Habe gar nicht mitbekommen, dass Sie noch hier sind.«
Schwachsinnssatz, dachte Stachelmann. Viele halten es nicht aus zu schweigen, wenn sie nichts zu sagen haben.
Stachelmann dankte, ohne sich umzudrehen. Als sie draußen war, griff er nach dem Blatt, es war eine Mitteilung der Fakultät über Sitzungen und Termine. Er zerknüllte das Papier, zielte auf den Papierkorb, der neben dem Schreibtisch stand, traf hinein ohne Randberührung und simulierte den Jubel einer gut gefüllten Basketballhalle. Inklusive Cheerleaders natürlich. Er grinste über seine Albernheit und nahm die Unterbrechung als Zeichen, den Arbeitstag zu beenden. Ein Impuls ließ ihn die Hand auf den Telefonhörer legen, um Anne anzurufen. Aber dann fiel ihm nichts ein, was er ihr hätte sagen können. Stattdessen wählte er Carmens Nummer, aber es meldete sich nur der Anrufbeantworter. Er sagte, er wolle nach Hause fahren, frische Kleidung anziehen, Post anschauen. Wenn sie morgen Abend Zeit habe für ihn, wäre es schön.
Er hatte gut geschlafen und wachte auf mit dem Vorsatz, auch diesen Tag seiner Habilschrift zu widmen. Stachelmann wollte wieder die Befriedigung eines guten Arbeitstages genießen. Die Briefe fielen ihm ein, vielleicht waren sie schon angekommen, und womöglich meldete sich jemand, der diese Frau kannte. Doch dann sagte er sich, es sei zu früh, vor dem Wochenende werde nichts passieren, wahrscheinlich erst kommende Woche. Also brauchst du dir jetzt keine Gedanken darüber zu machen. Nutze die Zeit für deine Arbeit. Er packte einen Kleidungsvorrat in eine Reisetasche mit einem Trageriemen und weckte so die Vorfreude auf den Abend. Arbeit und Liebe, in dieser Reihenfolge. Carmen hatte sich nicht gemeldet, aber das nahm er als gutes Zeichen. Und wenn sie am Abend keine Zeit hatte, würde er sich damit abfinden.
Würde er den Mord an Ossi aufklären? Ihn tröstete der Gedanke, dass er mehr nicht habe tun können für seinen alten Freund. Ossi im Himmel – Stachelmann lachte – hatte ihm gewiss zugeschaut und würde sich freuen, auch wenn das Rätsel nie gelöst würde. Schon meldete sich der Zweifel. Vielleicht hatte er sich doch selbst umgebracht? War Stachelmann gut gelaunt, zweifelte er an der Mordthese, war er schlecht gelaunt, glaubte er an Mord. Solange er nur herumstocherte und nicht mehr Zeit verschwendete, war es egal. Wenn er es nicht herausbekam, würden immer Zweifel bleiben. Und ihn quälen, wenn er niedergeschlagen war.
Die Sorgen verflogen schon in der Bahn. In seinem Dienstzimmer arbeitete er weiter, ein Drittel war geschafft. Am Nachmittag sagte Carmen am Telefon, sie habe am Abend und am Wochenende Dienst, aber in der kommenden Woche wieder Zeit für ihn. Er glaubte ihr, dass sie es bedauerte, ihn nicht öfter sehen zu können. »Das ist der Preis, wenn man sich mit einer Polizistin einlässt.«
Am Samstag und am Sonntag fuhr er zum Krankenhaus und besuchte seine Mutter. Ihr Gesicht sah nicht
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