Schatten des Wahns: Stachelmanns dritter Fall (German Edition)
Er ärgerte sich, er war nicht geradlinig. Du machst jetzt deine Arbeit fertig. Er legte die Zeitung weg, er verstand nicht, was er las. Ein Blick auf die Uhr, er hatte noch Zeit. Er lief umher, sah die beiden Fotos auf dem Schreibtisch und schaute sie an. Das war bestimmt die gleiche Frau. Und sie kannte diesen Kerl, der wiederum Lehmann kannte. Aber dann rief er sich in Erinnerung, dass damals viele politische Aktivisten sich kannten, sich mochten oder sich hassten. Die anderen für Dilettanten hielten, für Leute, denen der Durchblick fehlte oder die günstigstenfalls auf dem Weg waren, ihn zu bekommen. Am schönsten war es, wenn man dem anderen die Worte des jeweiligen Gottes um die Ohren hauen konnte. Wie sagte der chinesische Bauernphilosoph Mao noch? Da ist der Genosse Breschnew aber ganz anderer Meinung. Du vertrittst da ja eine interessante Theorie, Pech nur, dass Ho Chi Minh die schon vor zwanzig Jahren widerlegt hat.
Stachelmann grinste. Sie hatten ihr Denkvermögen abgegeben an Götter, die möglichst weit weg wohnten. Die einzig gültige Wahrheit war, was der Parteitag in China, Albanien, der Sowjetunion oder Kambodscha beschlossen hatte. Es war alles Unsinn, aber damals empfanden sie es als größtmögliche Klarheit. Heute, was ist heute schon klar?
Er betrachtete immer noch die Fotos, während die Gedanken abgeschweift waren. Wenn er diese Frau fand, die wusste vielleicht etwas über den Thingstättenmord. Und über Ossis Tod. Er dachte es in diesen Worten, um vor sich selbst zu verbergen, dass der Zweifel weiter nagte. Es war ein lächerlicher Versuch. Doch im Hirn ratterte es weiter. Wenn Kipper und Detmold Ossi nicht ermordet hatten, dann waren es womöglich andere. Dieser Kerl auf dem Foto vielleicht, den diese Frau kannte. Er packte die Fotos in seine Aktentasche und lief zum Hauptbahnhof.
Im Zug erinnerte er sich an einen Copyshop in Uninähe. Die paar Minuten konnte er investieren, ohne in Verzug zu geraten. Er eilte vom Dammtorbahnhof in die Schlüterstraße, wo er den Copyshop vermutete. Sie hatten kopierte Fotos im Schaufenster hängen, das wusste er noch. Er fand den Laden gleich und fragte eine spindeldürre Frau mit strähnigem Haar und Zigarette im Mundwinkel, ob sie Schwarzweißfotos sauber kopieren könne.
»Da weiß ich was Besseres, kostet ein Euro pro Abzug. Scannen und auf einem Fotodrucker ausgeben.«
»Wie lange dauert das?«
»Sie müssen schon ein bisschen warten.«
»Und wenn ich es Ihnen gebe und nachher wiederkomme.«
»Nur gegen Vorkasse.«
»Gut, jeweils zehn Abzüge.« Er gab der Frau zwanzig Euro, erhielt eine Quittung und ging zum Philosophenturm. Die Niedergeschlagenheit kämpfte mit neu erwachender Hoffnung. Nein, die Sache war nicht vorbei. Noch nicht ganz. Aber die Habilschrift hat Vorrang, absoluten Vorrang. Die Sonne schien aus einem blauen Himmel, der Wind roch nach Nordsee, eigentlich war es ein guter Tag.
Ungeduldig begann er mit der Korrektur seiner Habilitationsschrift. Bald formten sich Worte in seinem Kopf, er öffnete eine neue Datei und schrieb einen Brief. Ob sie die Frau auf den Fotos erkenne. Oder ob sie jemanden kenne, der weiterhelfen könnte. Und dann schrieb er noch, es tue ihm Leid, dass er nicht die Kraft gefunden habe, ihr zu erklären, was damals passiert sei. Er sei einfach abgereist aus Heidelberg, er habe sich nicht einmal verabschiedet von ihr. Er sei davongelaufen. Gewiss, die Beziehung sei in der Krise gewesen, er habe sich eingebildet, von ihr zurückgestoßen worden zu sein. Aber das rechtfertige nicht seine wortlose Flucht. Dafür bitte er um Entschuldigung, obwohl er wisse, nach so vielen Jahren sei nichts mehr wieder gutzumachen. Er habe sich aber gefreut, dass sie doch miteinander reden könnten, und so hoffe er auf ihre Hilfe. Es gehe immer noch um diese Thingstättensache und deren mögliche Weiterungen. Wenn sie Informationen habe, wäre er für eine Mail dankbar. Er werde die beiliegenden Bilder auch an andere verschicken, wenn ihr Leute einfielen, die helfen könnten, möge sie bitte Name und Anschrift senden.
Er schaute auf die Uhr, es war zu früh, zum Copyshop zu gehen. Also wieder ein, zwei Seiten der Arbeit durchsehen. Das Telefon unterbrach ihn.
»Der Kipper hat dich angezeigt. Wegen falscher Anschuldigung. Der war sogar beim Oberstaatsanwalt in Heidelberg, um Druck zu machen.« Carmen klang beunruhigt.
»Was kann da schon passieren? Ich habe mich eben geirrt.«
»Wenn Kipper nachweisen kann, nur in den Augen
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