Schatten des Wahns: Stachelmanns dritter Fall (German Edition)
mehr wächsern aus, die Ärzte hatten ihr eine Chemotherapie vorgeschlagen. Stachelmann riet ihr, dem Vorschlag zu folgen, auch wenn ihr das für einige Zeit eine Glatze bescheren würde. Um sie aufzuheitern, machte er Witze über Perücken und Mützen, sie lachte gequält. Sie würde länger im Krankenhaus bleiben, als die Ärzte es angekündigt hatten. Ob dies ein schlechtes Zeichen sei oder ein gutes? Sie schwankte in ihrem Urteil.
Am Sonntagabend saß er zu Hause und versuchte, die Niedergeschlagenheit zu vertreiben, die die Krankenhausbesuche in ihm ausgelöst hatten. Die Ärzte würden nicht zum chemischen Hammer greifen, wenn es keine Aussicht auf Erfolg gäbe. Der Gedanke beruhigte ihn. Dann fiel ihm ein, er könnte außer Haus essen, so käme er unter Leute, die gewiss keinen weißen Kittel trugen. Draußen war es mild, daher ging er zum Ali Baba in der Fischergrube. Im Hinterhof saßen wenige Leute. Er fand einen Tisch an der Mauer, die den Hof eingrenzte. Er verbrachte zwei Stunden in der Gaststätte, beobachtete die Leute um ihn herum und ließ seine Gedanken treiben. Stachelmann dachte an Anne, mit der er ganz zu Anfang hier gewesen war, und es war ihm, als spürte er ihre Wärme. Er erinnerte sich, wie Ossi sich an sie herangemacht hatte im Stil jener Männer, die sich später nicht vorwerfen wollten, es nicht versucht zu haben, auch wenn es von Anfang an vergeblich war, schon wegen der Anmache selbst. Ossi hatte unter dem Zwang der Selbstbestätigung gelitten, und manchmal war es abstoßend gewesen, auch diese Blicke, die einen aufforderten, eine Frau zu bewerten.
In den Jahren, die er im Norden lebte, hatte Stachelmann keine Freunde gewonnen. Mit wem würde er sich verabreden, wenn er Lust dazu hätte? Ihm fiel niemand ein, die Kollegen nicht, in der Stadt hatte er keine Bekannten, um von Freunden nicht zu reden. Ossi war eine Erinnerung an eine Freundschaft gewesen, die längst gestorben war, aber doch so stark nachwirkte, dass sie mehr füreinander empfunden hatten, als ihr heutiges Leben hergab. Er hatte an Ossi die Erinnerung gemocht, und die war immerhin kräftig genug, dass er den Ossi ertrug, den er in Hamburg wieder getroffen hatte.
Am Montagmorgen glaubte er, nicht geträumt zu haben. Er war ausgeschlafen und überwand bald die Steifheit in den Gelenken. Der Schmerz plagte ihn kaum, aber er spürte, wie der lauerte, um ihn früher oder später anzufallen. In den Lübecker Nachrichten las er eine Anzeige, in der ein neues Mittel gegen Rheuma angepriesen wurde, auf rein pflanzlicher Basis, ohne Nebenwirkungen. Das erinnerte ihn an einen Gesundheitsguru, der durch die Lande zog und den Gläubigen versprach, sie von allen Leiden zu heilen, wenn sie nur seine Wundermittel kauften. Vitamine gegen Krebs, Aids, Arthritis und weitere Plagen, an deren Existenz die Pharmakonzerne schuld seien.
Als er in seinem Dienstzimmer im Philosophenturm saß, trat Renate Breuer gleichzeitig mit ihrem Klopfen ein. Eine Dame habe ihn am Morgen am Telefon sprechen wollen. Nein, eine Nummer habe sie nicht hinterlassen, sie werde sich wieder melden.
Das musste jemand aus Heidelberg sein, eine Antwort auf seinen Brief mit den Fotos.
Als er gerade den PC eingeschaltet hatte, klingelte das Telefon. Er nahm ab. Es war Regine. Sie klang, als hätte sie schon nach dem Frühstück getrunken.
»Ist ja nett, dass du mir das geschrieben hast«, sagte sie. »Ich hatte völlig vergessen, dass du damals einfach so abgehauen bist.«
»Es hat dir nicht viel ausgemacht«, sagte Stachelmann. Er war ein bisschen beleidigt.
»Offenbar.«
»Und warum?«
»Sag mal, bist du jetzt beleidigt?« Sie zögerte, dann legte sie nach: »Schließlich hast du mich sitzen gelassen.«
»Nein, nein«, versicherte er. »Nur, mich verwirrt deine Reaktion.«
Sie lachte, es schmerzte ihn fast. Er nahm den Hörer vom Ohr.
Dann sagte sie: »Es war doch so oder so am Ende. Jetzt kann ich es dir ja sagen, ich hatte damals was nebenher laufen.«
»Wie bitte?« Aber dann fiel ihm ein, dass sie damals plötzlich kaum noch Zeit für ihn gehabt hatte. »Du hattest einen anderen?«
»Nun krieg dich mal wieder ein. Damals tauchte der Herr Ginelli auf, dem ich meinen wunderbaren Nachnamen verdanke.«
»Trotzdem«, sagte er, obwohl er am liebsten nichts mehr gesagt hätte. »Einfach abzuhauen war nicht die feine Art.«
»Mir war es recht. Du hattest dir den schwarzen Peter freiwillig ausgesucht. Ich hatte keinen Grund mehr, ein schlechtes Gewissen zu
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