Schatten des Wahns: Stachelmanns dritter Fall (German Edition)
gut.«
Am Abend fuhr er zu Carmen, nachdem er sich am Telefon vergewissert hatte, dass sie zu Hause war. Ungeduldig wartete er auf Regines Anruf. Immer wieder überfiel ihn das schlechte Gewissen. Er log Anne an, es wäre nicht nötig gewesen. Warum spielte er nicht mit offenen Karten? Sie hatte ihn zurückgestoßen. Darüber dachte er nach, während die U-Bahn durch die Dunkelheit fuhr und ein Schimmern die nächste Station ankündigte. Nein, so einfach war es doch nicht, es war eine lange Geschichte, an deren Anfang dieser Urlaub stand, den sie sich ausgedacht und gegen den er nichts eingewendet hatte. Urlaub heißt Erholung, jedenfalls für mich, hätte er sagen sollen. Aber nicht die Buchung akzeptieren und dann nicht mitfahren. Sie hatte Recht, es war nicht die feine Art gewesen. Er war feige, viel zu feige. Nicht nur in jener Sache. In diesem Augenblick würde er sich als Gummimenschen beschreiben, als jemanden, der sich bog und wand, um allem auszuweichen, was er als Belastung empfand. Wie lange hatte er gebraucht, um sich bei Regine zu entschuldigen? Dass sich seine Schuld als nichtig herausgestellt hatte, änderte nichts am Grundsatz. Warum erzählte er Anne nichts von Carmen, zumal sie die ja kannte? Um Anne nicht wehzutun? Lächerliche Entschuldigung, die die Feigheit in Großmut ummünzte. Und Anne wusste es doch längst, dafür hatte sie ein Gespür.
Auf dem Weg vom U-Bahnhof Lattenkamp zu Carmens Wohnung genoss er den Regen, der ihn mit schweren Tropfen durchnässte. Er lenkte ihn ab, als würde er die Sorgen des Tages wegwaschen, und er erleichterte es ihm, sich auf den Abend einzustellen. Nun freute er sich auf Carmen. Die begrüßte ihn zärtlich und sagte, sie wolle essen gehen. Sie kenne da einen Italiener, der habe gerade aufgemacht und solle hervorragend sein.
Er schaltete sein Handy auf lautlos, sodass es nur vibrierte, wenn Regine anrief.
»Kannst du es nicht ausmachen?«, fragte sie, nachdem der Kellner, ein kleingewachsener Italiener unbestimmbaren Alters, ihnen Plätze angeboten hatte.
»Nein, Regine will anrufen. Sie findet vielleicht heute Abend heraus, wer die Frau auf den Fotos ist. Den Vornamen kenne ich schon: Angelika.«
»Du verrennst dich«, sagte Carmen. »Aber ich habe dich schon so weit kennen gelernt, dass ich weiß, wie stur du sein kannst.«
Er nickte lachend. »Wenn alle sagen, ich sei stur, wird es schon stimmen.«
Sie bestellten, aßen, tranken. Und dann vibrierte das Handy in der Hemdtasche. Er hätte es fast fallen gelassen, so ungeduldig riss er aus der Tasche. »Ja?«
»Stolpe«, sagte Regine. »Wie dieser frühere Ministerpräsident aus Brandenburg.«
»Angelika Stolpe. Sie wohnt hier ganz in der Nähe, in Oberflockenbach, liegt etwa in der Mitte zwischen Heidelberg und Weinheim, aber im Odenwald. Ich war da schon mal, ist so ein Dorf, Bauernhof, Tankstelle, Gaststätte, die ist übrigens bekannt, weil der Koch in Frankreich gelernt hat. Kannst mich ja mal zum Essen einladen. Gästezimmer haben die auch, da hat mal eine Freundin von mir übernachtet. Straße und Hausnummer von Angelika weiß ich nicht, aber das kriegst du leicht heraus.«
Stachelmann bedankte sich und sah auf die Uhr.
»Du würdest am liebsten jetzt losfahren«, sagte Carmen.
»Ja. Aber ich fahre erst morgen früh, mit dem Auto. Die Nacht haben wir für uns.«
Ihr Gesicht rötete sich leicht. Aber in der Nacht spürte er, sie war mit ihren Gedanken woanders.
* * *
2. Mai 1979
R. hat den Absprung geschafft, und das auf raffinierteste Weise. Ich werde es nicht beschreiben, weil ich nicht ausschließen kann, dass mein Tagebuch in falsche Hände gerät. Er hat meine Bewunderung. Schade, dass ich es nicht so hinkriegen werde, aber es wäre auch zu auffällig.
Die Bewegung wird kaputtprozessiert. Studenten, sogar Rechtsanwälte werden angeklagt, immer neue Verfahren. Die zeigen Wirkung, selbst Aktivisten kriegen Angst. Vorstrafe ist gleich Berufsverbot, jedenfalls wenn man in den Staatsdienst will. Gewiss ist, wird man verurteilt, haben die einen auf dem Kieker. Man wird sie nicht mehr los.
Die gestrige Maidemo war friedlich wie nie. Die Gewerkschaftsbonzen und die Sozis, natürlich auch die DKPisten sind brav marschiert und haben die 35-Stunden-Woche gefordert. Kein Wort über die Prozesse. Während wir geschlachtet werden, grinsen die Arbeiterverräter sich einen. Denen ist es recht, wenn sie uns loswerden. Dann können sie ihre Spielchen ungestört spielen. Die Kapitalisten wird es
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