Schatten des Wahns: Stachelmanns dritter Fall (German Edition)
drin. Nur am Rand natürlich, aber es ist auch mein Leben. Und es geht um einen Mord. Es sieht so aus, als hätte Ossi alle Unterlagen zu einem Mord gesammelt, der uns damals aufgeregt hat, sogar noch zu meiner Zeit. Ich habe erst danach angefangen mit dem Studium.«
»Die alten Geschichten also.«
»Die einen zu dem gemacht haben, der man ist.«
»Oho, ein Philosoph ward geboren.« Ihr Spott klang versöhnlich.
»Na, überleg doch mal, ich lese lauter Dinge, von denen ich kaum noch etwas weiß. Aber damals, als sie geschahen, haben sie mich beschäftigt. Da waren sie wichtig. Es ist ewig her, aber ich glaube, es kommt zurück. Je mehr Akten ich lese in Ossis Mappe, desto näher rückt mir das alles. Ich habe Bilder im Kopf.« Warum fiel ihm jetzt Regine ein, verschwommen das Gesicht, deutlich die lockigen blonden Haare und dieses unglaubliche Lachen, das gleichzeitig herausforderte und zurückwies?
»Warum sagst du nichts mehr?«
»Tut mir Leid, mir ist da gerade was eingefallen.«
»Hm.« Ihm klang es so, als ahnte sie, wer ihm eingefallen war. Aber das konnte sie nicht wissen. »Du vergräbst dich also in diesen Geschichten. Und wann tauchst du wieder auf?«
»Weiß nicht. Aber das muss ich jetzt machen. Das bin ich Ossi schuldig.«
»Einem Toten ist man nichts schuldig. Das bist du höchstens dir selbst schuldig. Aber warum eigentlich schuldig? Das ist doch nur Gerede.«
Was faszinierte ihn an dieser Vergangenheit? Er hätte leicht sagen können, warum ihn dieses oder jenes Thema der Geschichte packte. Warum aber die eigene Geschichte? Was gab es da zu erforschen? Die offenen Fragen, fiel ihm ein. Das, was nicht geklärt ist. Das, wovor ich weggelaufen bin. Wie vor Regine. »Du magst es für eine besonders bescheuerte Form der Selbstverliebtheit halten, aber ich glaube, dass ich noch einige Dinge klären muss.«
»Und was, bitte?«
»Zum Beispiel, was ich damals getrieben habe. Vor allem, warum ich das getan habe. Warum ich den Revoluzzer geben musste. Und warum ich manches nicht getan habe. Das würde mich fast noch mehr interessieren.«
»Und die Antwort findest du in Ossis Akten?« Sie glaubte ihm nicht, er hörte es heraus.
Regine, wie konnte ich sie vergessen? Je größer die Schuld, desto stärker die Verdrängung?
»Nein, aber vielleicht Hinweise darauf.«
»Aber wir fahren doch nach Schweden in Urlaub, nicht wahr?«
Er zögerte einen Augenblick. »Natürlich.«
»Und du sagst gelegentlich Bescheid, wann du hier wieder auftauchen willst.«
»Gewiss.«
Als er sich verabschiedet hatte, nahm er eine Diclofenac, ging ins Schlafzimmer und legte sich aufs Bett. Der Rücken und die Beine schmerzten, er war erschöpft. Stachelmann schloss die Augen und erinnerte sich, wie er mit Anne zusammengekommen war. Eine verrückte Geschichte. Als sie vor einigen Jahren ans Seminar gekommen war, änderte sich der Ton. Bohming bot seinen engsten Mitarbeitern sogar das Du an, nur um auch Anne duzen zu können. Sie schwänzelten um sie herum, aber sie tat so, als merkte sie nichts von den Annäherungsversuchen. Fast immer gut gelaunt, mit einem zauberhaften Lächeln machte sie ihre Arbeit. Stachelmann beteiligte sich nicht an dem Gebalze. Natürlich gefiel sie ihm auch, aber er rechnete sich keine Chance aus. Warum also um eine Enttäuschung betteln? Aber dann war es ausgerechnet Bohming, der sie zu ihm schickte, damit er ihr half. Vielleicht weil der Lehrstuhlinhaber ihn nicht als Konkurrenten um Anne wahrnahm. Sie gestand ihm, sie habe Angst vor Archiven, die waren ihr riesig, unübersichtlich und vor allem als Orte vorgekommen, an denen man etwas übersehen konnte, was einem die Fachwelt mit Hohn und Vergnügen um die Ohren schlug. Und dann wurden sie in diesen Serienmord an der Holler-Familie verwickelt. Stachelmann erinnerte sich gut an ihren gemeinsamen Abend im Tokaja, wo er später auch Ines getroffen hatte. Aber das ist eine andere Geschichte. Nachdem sie den Fall aufgeklärt hatten, setzte die Entfremdung ein. Warum eigentlich? Er war schuld, er hatte sich nicht getraut, den letzten halben Schritt zu gehen. Dass er ihn gehen würde, durfte sie verlangen, hatte sie doch genug Signale gesandt. Ja, ja, du hast ja Recht, flüsterte er, als läge sie neben ihm. Ich war zu feige. Ich habe mir selbst nicht getraut. Habe mir nie vorstellen können, wie eine solche Frau auf die Idee kommen könnte, etwas mit mir anfangen zu wollen. Ich bin nicht schön, er lachte leise, wahrhaftig nicht. Ich bin ein
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