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Schatten des Wahns: Stachelmanns dritter Fall (German Edition)

Schatten des Wahns: Stachelmanns dritter Fall (German Edition)

Titel: Schatten des Wahns: Stachelmanns dritter Fall (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian V Ditfurth
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Abschiedsbrief hinterlassen, um die Kollegen irrezuführen. Weil er fand, Freitod passe nicht in seinen Lebenslauf. Ossi, das wäre nicht fair, auch nicht mir gegenüber, oder Carmen. Aber warum sollte einer, der sich umbringen wollte, über Fairness nachdenken? Warum hatte er sich mit Insulinspray getötet, wo er doch kein Diabetiker war? Und warum noch das Tramal? Ossi hätte sich doch mit seiner Pistole erschossen. Lauf in den Mund, abdrücken, fertig. Schnell, schmerzfrei, eindeutig.
    Stachelmann blätterte zu dem Artikel, in dem das »nie« unterstrichen war. Hatte Ossi das getan? Und wenn ja, wann? Kurz vor seinem Tod? Aber Ossi hatte mit dieser Sache doch nichts zu tun. Das hätte er Stachelmann erzählt. Oder nicht? Wahrscheinlich litt nur sein Polizistenherz, weil ein Mord nicht aufgeklärt worden war. Immerhin, Ossi war schon in Heidelberg gewesen, als das Verbrechen geschah. Die Leiche in der Thingstätte. Hingerichtet, Genickschuss. So wie die Juden im Osten am Rand der von ihnen selbst ausgehobenen Massengräber. Oder die polnischen Offiziere in Katyn. Oder die Opfer der großen Säuberung. Der Genickschuss war die Tötungsmethode der SS wie des sowjetischen Geheimdienstes. Da musste man dem Opfer nicht ins Gesicht sehen. Lehmann habe sich hinknien müssen, den Spuren nach zu urteilen, hatte ihm jemand in die Kniekehlen getreten. So um zwei oder drei Uhr am Morgen endete sein Leben.
    Es war nicht nur ein Mord, sondern eine Demütigung. In dem Artikel wurden offensichtlich nicht alle Spuren beschrieben, die die Polizei gefunden hatte. Stachelmann kam er karg vor. Er versuchte sich vorzustellen, wie die Leiche ausgesehen haben musste. Er hatte es einmal erlebt, wie es aussah, wenn sich einer in den Kopf schoss. Es ekelte ihn, ihm wurde übel. Außerdem wusste er aus historischen Schilderungen, dass die Opfer kurz vor der Tat oder danach Kot und Urin abließen. Wenn es davor geschah, gehörte es zur beabsichtigten Entwürdigung des Opfers. Wenn es seine Würde verlor, hatten es die Täter leichter. Man erschlägt leichter eine Schmeißfliege, als dass man einen Menschen erschießt. So kann man den Unterschied kleiner machen. Man verwandelt Juden in Ratten wie der Naziregisseur Veit Harlan oder politische Feinde in Gewürm. Dann ist es kein Mord, sondern Desinfektion.
    Er überflog die Seiten, die vom Mord handelten, und legte sie auf einen Stapel. Einen kleineren Stapel bildete das Material zur Roten-Punkt-Aktion. Dann ging es noch um Boykottaktionen der Studenten bei den Germanisten und Mathematikern, 1976 bis 1978. Die Endphase hatte Stachelmann miterlebt. Wie das Rektorat Studenten von der Universität verwiesen hatte und sie angeklagt wurden wegen Hausfriedensbruchs und Nötigung. Auftritt der Professoren und Dozenten als Zeugen der Anklage. Da sollte etwas demonstriert werden. Da setzte die schwarze Fraktion Lehrkräfte unter Druck, die einen Ausgleich mit den Studenten wünschten. Nächtliche Anrufe bei Leuten, die noch nicht auf Linie waren. Der Hinweis auf Verträge, die verlängert werden mussten. Bund Freiheit der Wissenschaft nannte sich der Zusammenschluss von rechten Lehrkräften, die hinter jedem Aufmucken der Studenten den langen Arm Moskaus witterten. Die Chefideologin dieser Vereinigung zog in den Bundestag ein und beglückte später die Fachwelt mit der Erkenntnis, in der DDR sei das »Kommunistische Manifest« von Marx und Engels wortwörtlich umgesetzt. Anders gesagt, um die DDR zu verstehen, müsse man nur das »Manifest« lesen. Was zeigte, sie kannte das »Manifest« oder die DDR oder eher beides nicht.
    Und so jemand wird Professor, dachte Stachelmann. Und ich nicht. Aber es liegt in deiner Hand, red dich nicht raus. Ob anderen das Parteibuch genutzt hat, das spielt für dich keine Rolle. Du machst dich lächerlich. Sieh zu, dass deine Habilarbeit fertig wird, der Rest läuft von selbst.
    Er zog den Stapel mit den Berichten und Stellungnahmen zum Mord vor sich. Ein RNZ-Artikel berichtet über das angebliche Bekennerschreiben. Eine »Revolutionäre Garde« erklärte in einem an verschiedenen Orten der Stadt ausgelegten Flugblatt, sie habe den Verräter Joachim Lehmann hingerichtet. Der sei in einem geheimen Gerichtsverfahren überführt worden, mit dem Verfassungsschutz zusammengearbeitet zu haben. Alle antifaschistischen Gruppen müssten den Verrat erbarmungslos bekämpfen, weil sonst der Faschismus wieder an die Macht komme. »Nie wieder Auschwitz«, sei das Papier unterzeichnet

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