Schatten des Wahns: Stachelmanns dritter Fall (German Edition)
gewesen. Die Kriminalpolizei aber glaube nicht an die Echtheit der Erklärung. Sie sei spät gekommen. Und wer sie geschrieben habe, wisse nicht mehr über das Verbrechen, als in der Zeitung gestanden habe.
Die Notizen über den Fall wurden kleiner, es drängten sich andere Dinge in den Vordergrund. Stachelmann erinnerte sich gut an die Gerüchte, die nie verstummen wollten. Dass es doch ein Fememord in einer Sympathisantengruppe gewesen sei. Andere verwiesen auf den Fundort der Leiche und behaupteten, es könne sich nur um Nazis gehandelt haben. Hatte Ossi jemals etwas dazu gesagt in Stachelmanns Anwesenheit? Er konnte sich daran nicht erinnern. Eher nicht, oder nichts Wichtiges. Warum hatte Ossi diese Papiere aufbewahrt? Du wirst das Rätsel sowieso nicht lösen, heute schon gar nicht.
Er stand auf. Bevor er ins Schlafzimmer ging, warf er noch einen Blick auf seinen Schreibtisch. Dann sah er den Anrufbeantworter. Jetzt war es zu spät, die Mutter anzurufen. Er legte sich ins Bett und schloss die Augen. Bilder zogen an ihm vorbei. Demonstration auf der Hauptstraße, rote Fahnen, rhythmische Sprechgesänge, Polizei, überall Polizei, mit Helmen, das Visier geschlossen, und Knüppeln. In den Seitenstraßen Mannschaftswagen, Wasserwerfer mit vergitterten Scheiben.
Mich zieht es nach Heidelberg. Vielleicht ist Ossi gestorben, weil er etwas nicht erledigt hatte. Weil da etwas zurückgekehrt war. Du spinnst, du erfindest Gründe, nach Heidelberg zu fahren. Aber der Grund für Ossis Tod muss dort liegen. Sonst hätte er nicht diese Aktenmappe auf dem Schreibtisch gehabt. Das ist Zufall. Ossi hat sich umgebracht, zähl eins und eins zusammen. Der war fertig, schon lange. Und dann gab es etwas, das ihn ausrasten ließ. Eine Kleinigkeit konnte genügen, der Tropfen, der das Fass überlaufen lässt. Du schiebst Ossis Tod vor, um deine eigenen Geschichten ins Lot zu bringen. Aber nach fast dreißig Jahren kann man nichts mehr ins Lot bringen. Da sind Schuld und Streit verdampft.
Als er die Augen öffnete, war es hell. Der Wecker klingelte, er stellte ihn aus. Er schaute an die Decke, stieg aus dem Bett und humpelte ins Bad, die Gelenke waren steif. Sonst fühlte er sich gut. Nach dem Frühstück überlegte Stachelmann kurz, ob er Ossis Akte einpacken sollte, aber dann ließ er sie auf dem Schreibtisch liegen. Heute wollte er sich endlich wieder mit seiner Habilarbeit beschäftigen. Als er das Haus verließ, begann es zu regnen. Er fluchte leise, weil er seinen Regenschirm vergessen hatte. Aber der Regen war warm. Den Bahnhof konnte man nur durch einen Seiteneingang betreten, er war eine Baustelle, lange schon, auch weil ein Rechtsstreit einen Baustopp verursacht hatte. Provisorische Stahltreppen führten zu den Gleisen, die Stufen waren nassglatt, er stieg sie vorsichtig hinunter und setzte sich in die erste Klasse des wartenden Zuges nach Hamburg. Der Regionalexpress verließ pünktlich Gleis 9 und erreichte rechtzeitig den Hamburger Hauptbahnhof.
In seinem Dienstzimmer fand er einen Zeitschriftenausriss auf dem Schreibtisch. Es war eine als Artikel verkappte Anzeige: »Weihrauch – das Wundermittel gegen Rheuma«. Er überflog den Text, der von sensationellen Heilerfolgen berichtete, und wurde wütend. Welcher Idiot hat mir diesen Quatsch auf den Schreibtisch gelegt? Ich habe diese elende Krankheit seit fast zwanzig Jahren, und manche glauben, es genüge, zum Friseur zu gehen, in den einschlägigen bunten Blättern etwas zu entdecken, um es ihm hinzulegen. Wie viele Ratschläge, die ja immer so furchtbar gut gemeint und nie überlegt sind, habe ich schon bekommen? Ich kann sie nicht zählen. Weihrauch, Vitaminpillen, Diäten, Magnetismus, Rheumawunderpillen wie das längst wieder vom Markt verschwundene Vioxx – alles Unsinn, von dem sich eine Autoimmunkrankheit nicht beeindrucken lässt. Was denken sich diese Leute dabei? Halten sie mich für zu blöd, mit meiner Arthritis umzugehen? Stachelmann erinnerte sich eines Gesprächs mit einer Frau an einem Messestand, die ihm genau erklärte, wie er gesund würde, aber nicht einmal den Unterschied zwischen Arthrose und Arthritis kannte. Diese Mischung aus Mitleid und Bauernfängerei ist zum Kotzen. Fast wäre seine gute Laune verschwunden. Er knüllte den Ausriss zusammen und warf ihn in den Papierkorb. Du darfst dich von solchem Kleinkram nicht beeindrucken lassen.
Er schaltete den PC ein und öffnete die Datei mit seiner Habilitationsschrift über das
Weitere Kostenlose Bücher