Schatten des Wahns: Stachelmanns dritter Fall (German Edition)
Fachzeitschriften, und die Akten hatte Stachelmann verarbeitet. Komm jetzt, an die Arbeit, Grübeln backt kein Brot.
Er zwang sich dranzubleiben. Im Kampf mit seinen trüben Gedanken ackerte er Zeile um Zeile durch. Er war streng mit sich, obwohl er wusste, die Gutachter würden gerade sprachliche Schwächen nicht bemerken, waren sie doch Meister der Jargons und des verbalen Imponiergehabes. Die Wissenschaft ist die Arena der Eitelkeit, wo sich die Matadore übertreffen an Aufgeblasenheit. Ihre Argumente glichen oft genug Luftballons. Sticht man hinein, bleibt nur die schrumpelige Hülle, gerade gut genug für die Mülltonne. Aber bitte in den gelben Sack, da grinste er. Die Niedergeschlagenheit verkroch sich in eine Ecke. Sie wartete dort nur auf die nächste Gelegenheit, das wusste er. Er war schon am Ende der Einleitung angelangt, als es an der Tür mehr kratzte als klopfte. Anne schaute hinein.
»Na, fleißig, großer Meister?«
»Das darfst du mich nennen, wenn du ab sofort meine Dienerin wirst.«
»Mal sehen«, sagte sie. »Ich diene aber nur wirklich großen Meistern. Du musst dich anstrengen. Was machst du?«
»Die Einleitung hab ich durch.«
»Bohming hat dich vorgeladen, hört man.«
»Was du so alles hörst. Er hat mir gekündigt.«
Sie hielt die Hand vor dem Mund und blickte ihn an aus großen Augen. »Was?«
Ein bisschen genoss er es. »Na ja, nicht so direkt. Wenn ich im September das da« – er zeigte lässig auf den PC – »nicht abgebe, wird mein Vertrag nicht verlängert.« Er stand auf. »Und jetzt gehen wir in die Cafeteria, für die Mensa reicht mein Hunger nicht. Mir ist das doch ein wenig auf den Magen geschlagen.«
Sie fuhren schweigend mit dem Aufzug ins Erdgeschoss. Stachelmann starrte auf einen Fleck, und sie schaute auf den Boden. Am Büfett wählte er ein Käsebaguette, sie einen kleinen Salat, beide nahmen Mineralwasser dazu. Sie fanden einen freien Stehtisch und stellten sich fast nebeneinander daran.
»Das heißt, du fährst nicht mit in den Urlaub?«
Er kaute.
»Ich habe es von Anfang an geahnt. Es hat nichts zu tun mit deiner Arbeit.«
»Womit sonst?«, fragte er.
»Du bist der schlimmste Eigenbrötler, den ich je getroffen habe. Warum, verflucht, muss ich einen Mann lieben, der so durchgeknallt ist wie du?« Sie schob sich eine Gabel Salat in den Mund.
»Die Frage kann ich dir schlecht beantworten«, sagte er. Er versuchte freundlich zu klingen. Doch er spürte, es würde Streit geben.
»Du kannst dich nicht binden. Jedenfalls nicht an eine Frau mit einem Kind.«
»Warum siehst du das nicht pragmatisch? Wenn Felix schreit, kann ich nicht arbeiten. Du könntest es auch nicht. Du hast eine Halbtagsstelle und eine Tagesmutter und im Notfall diese Freundin, die den Babysitter spielt. Ich habe eine Ganztagsstelle und sitze mitten im Schlamassel. Das habe ich mir zwar selbst eingebrockt, aber so ist es nun einmal. Du hättest dabei sein sollen beim Sagenhaften. Der ist ja feige, sagt einem das nicht gerade ins Gesicht. Aber für seine Verhältnisse war es eine Kampfansage. Entweder ich bin im September fertig und gebe ab, oder mein Vertrag wird nicht verlängert. Und da soll ich in Urlaub fahren! Gleichgültig, ob mir der vorher nicht geheuer war, jetzt geht es jedenfalls nicht mehr. Ich zahle natürlich meinen Anteil, stornieren kann ich ja nicht mehr.«
Sie knallte ihre Gabel auf den Tisch, drehte sich abrupt weg und ging hinaus zum Von-Melle-Park. Er erschrak, schaute ihr nach und stand wie gelähmt.
* * *
8. Mai 1978
Jahrestag der Befreiung vom Faschismus. Aber zerstört ist er nicht, eine Stunde Null hat es nicht gegeben. Kein Richter bestraft, die Generäle bemitleiden sich, weil Hitler sie nicht habe siegen lassen. In der Presse alte Nazis zuhauf, in der Politik sowieso: Globke, Oberländer, Lübke, der KZ-Baumeister, Kiesinger. Ein Kabarettist sagte jüngst: Ich kann leider nicht Bundespräsident werden, ich war nie Mitglied der NSDAP. Der 8. Mai ist ein Tag, an dem man verzweifeln könnte. Aber wir müssen kämpfen, immer weiter, immer weiter. Schwer macht es uns, dass die Faschisten sich heute tarnen. Die neuen Faschisten sind Sozialdemokraten, Christdemokraten, Freie Demokraten. Sie sind demokratisch, solange unser Kampf nicht vorankommt. Aber wehe, sie fühlen sich bedroht. Was für einen Affentanz sie gemacht haben wegen der paar RAF-Leute, Notstand, Dauerfahndung, und jedes demokratische Recht, das ihnen auf dem Papier entgegenstand, haben sie einfach
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