Schatten des Wahns: Stachelmanns dritter Fall (German Edition)
werde auf meinen Urlaub verzichten, hatte ich ohnehin vor.«
Bohming schaute ihn fragend an. Stachelmann überlegte, wie viel der wusste über ihn und Anne. Stachelmann erwartete Bohmings Einwand, nein, den Urlaub solle er genießen, aber danach mit voller Kraft voraus. Doch Bohming sagte nichts, und da begriff Stachelmann, es wurde ernst. Alle Mahnungen zuvor waren Geplänkel gewesen. Jetzt wurde es eng. Er musste es schaffen.
»Ich habe dem Dekan gesagt, es sei eine große Arbeit, und das dauere. Wir alle hätten einen Nutzen davon, wenn sie veröffentlicht würde. Das Rohmanuskript verspreche viel. Und dann sei der Kollege Stachelmann ja in diese schreckliche Sache verwickelt gewesen. Traumatisch. Man müsse sich mal vorstellen, ins Gefängnis gehen zu müssen. Und dann der Prozess, der habe alles wieder aufgewühlt.«
Stachelmann war einen Nachmittag im Lübecker Landgericht als Zeuge vernommen worden. Daran wollte er nicht mehr denken. Bisher hatte er es geschafft, davon auch nicht zu träumen. Aber er wartete darauf. Er nickte.
»Gut, aber wir verständigen uns darauf, du machst das jetzt fertig. Ende September?« Bohming schaute wieder an Stachelmann vorbei. Es war eine Frist, zum ersten Mal. Das hieß: Wenn du nicht bis Ende September deine Habilitationsschrift vorlegst, kannst du eine weitere Vertragsverlängerung vergessen. Der Vertrag lief bis Ende des Jahres. Am 1. Januar würde Herr Dr. Stachelmann also zu den Arbeitslosen gehören. Ihm wurde kalt.
»Noch was anderes«, sagte Bohming überfreundlich. »Meine Frau – kennst du sie? Ach nein, wird aber Zeit, also, meine Frau hat jüngst was gelesen über diese Krankheit, die dich plagt, diese Arthrose. Da gibt es solche Pillen, Enzyme, wenn man die regelmäßig nimmt ... ohne Nebenwirkungen. Ich sag dir das nur mal so, du wirst besser wissen, was dir hilft.« Er wischte flüchtig über die Tischplatte.
»Danke«, sagte Stachelmann und stand auf.
»Dann sind wir uns einig.«
»Ja.«
Vor der Tür atmete Stachelmann einmal durch und blies pfeifend die Luft aus. Eine Studentin kam vorbei, schaute ihn an und grinste. Stachelmann eilte zurück in sein Dienstzimmer. Er setzte sich an den Schreibtisch, stützte seinen Kopf in beide Hände und schloss die Augen. Das hatte er all die Jahre erwartet: ein Ultimatum. Es war überfällig. Er gestand sich ein, es lag allein an ihm. Er hatte die Geduld jener überdehnt, auf die er angewiesen war, vor allem Bohmings. Der mochte ein Aufschneider sein und fachlich längst nicht mehr wahrnehmbar, aber er hatte lange zugeschaut. Und nun war es zu Ende. Aber vielleicht war es die einzige Möglichkeit, ihn zu zwingen, diese elende Arbeit abzuschließen. Ob es ein Trick war?
Er kratzte sich an der Schläfe. Hatte Anne mit Bohming gekungelt? Sie hatte Stachelmann bedrängt, ihm die Gefahr immer wieder an die Wand gemalt. Ab wann hatte sie nichts mehr gesagt über dieses Thema? Nach einem ersten Streit, als er gejammert und sie ihn abgefertigt hatte wie einen Schuljungen, der seine Hausaufgaben vergessen hat. Mein Gott, nun stell dich nicht so an, hatte sie gesagt. Eigentlich ist das große Werk längst fertig, aber die Feinarbeit verweigert der Herr Doktor. Er hat Schiss vorm eigenen Text. Das hat jeder! Jeder! Frag mal mich! Und jeder überwindet die Angst! Sogar ich! Nur du nicht! Du gräbst dir das eigene Grab. Glaub nicht, ich schau nur zu. Ich werde dich schon dahin kriegen, dass du zu Potte kommst. Verlass dich drauf. Dann war sie aus dem Wohnzimmer gerauscht, hatte die Tür zugeschlagen. Aber eine halbe Stunde später hatte sie ihn in den Arm genommen. Ist schon gut, du kriegst das hin, hatte sie gesagt.
Verlass dich drauf.
Machte sie die Ankündigung nun wahr? Er spürte seinen Zorn. Was ging es sie an? Es war sein Recht, unter der Brücke zu enden. Oder im Hauptbahnhof. Druck machen, hintenrum, aber in Urlaub fahren wollen mit mir. Nein, meine Gute, so nicht. Und wenn sie gar nicht gekungelt hatte? Oder wenigstens nicht bewirken wollte, dass Bohming ihm ein Ultimatum setzte? Wie oft erreicht der gute Wille das Gegenteil von dem, was er bezweckt. Aber sie darf sich nicht einmischen, nicht einbilden, sie könne ihm helfen. Da fiel ihm ein, wie sie gemeinsam den Berg der Schande abgebaut hatten, jedenfalls hatten sie gemeinsam damit begonnen. Und er war daran hängen geblieben. Ohne sie gäbe es diesen Aktenstapel auf dem Tisch – er schaute hin – immer noch. Da lagen jetzt Seminararbeiten und
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